1. Die historische Schule als mächtige Tradition der deutschen Nationalökonomie

Dennoch kommt der historischen Schule besondere Bedeutung für die Entwicklung der deutschen Nationalökonomie zu. Erstere bildet den Kern eines Gedankengutes, das als gewichtigste Tradition des deutschen Wirtschaftsdiskurses anerkannt ist. Von den Wurzeln bis zu den jüngsten Trieben der deutschen historischen Schule, durchdringt der Geist einen Jahrhunderte langen Entwicklungsprozess: „from Cameralism to Ordoliberalism“. 95 Die Rede ist also von einem Prozess, der als deutsch-österreichische Variante des Merkantilismus Anfang des achtzehnten Jahrhunderts mit dem Kameralismus – einer Generalwissenschaft der Staatsverwaltung – begann und mit der Formulierung einer liberalen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik durch den Freiburger Ökonomieprofessor Walter Eucken zwecks Deutschlands Rückkehr zur Marktwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg endete.

Über jene Zeitspanne hinweg bildeten sich verschiedene Verzweigungen heraus. So unterscheidet die Literatur üblicherweise zwischen „alter“, „junger“ sowie „jüngster“ historischer oder sogar „neohistorischer“ Schule je nach Methode, Lehre und Hermeneutik. 96 Die alte historische Lehre entwickelt bzw. problematisiert eine geschichtliche Methode zur Erkenntnis des Wirtschaftsprozesses, die von der romantischen Lehre Adam Müllers (1779-1829) zwar als Idee, weitergehend aber erst von Friedrich List (1789-1846) eingeführt worden war. Dazu zählen die Arbeiten von Wilhelm Roscher (1817-1894), Bruno Hildebrand (1812-1878) und Karl Knies (1821-1898). Auf dieser Basis gründet Gustav Schmoller (1838-1917) eine einheitliche Lehre der Wirtschaftsstufen, die der jungen Schule entspricht. Unter der neohistorischen Denkrichtung werden in erster Linie die Beiträge von Werner Sombart (1863-1941), Arthur Spiethoff (1873-1957) und schließlich Walter Eucken (1891-1950) verstanden.

Die aus- und nebeneinander gewachsenen Zweige stellen verschiedenartige Theorien mit unterschiedlichen Annahmen, Gedankenkonstrukten und kausalen Aussagen dar. Ungeachtet dessen fasst diese ökonomische Tradition jedoch Denkrichtungen zusammen, die sich aus der Kritik an Smiths und Ricardos klassischer Schule sowie später an Mengers exakter Theorie herauskristallisieren, um den Wirtschaftsprozess als historisch bedingt aufzufassen. Sie gehen alle von der zentralen Hypothese aus, dass Bedingungen (Institutionen im üblichen Sinne) oder sogar Ergebnisse der Wirtschaftstätigkeiten (Produktion, Konsumtion und Verteilung, Kapitalgewinn, Bodenrente und Arbeitslohn, usw.) sich nicht ausschließlich aus rein ökonomischen Größen ergeben. Vielmehr sind die Gegebenheiten Teil eines Gesellschaftsbildes, das vorwiegend aus geschichtlicher Entwicklung resultiert. Für Epigone dieser wissenschaftlichen Richtung besteht also jenseits theoretischer Divergenzen ein Ziel darin, individuelle oder gemeinsame Züge vergangener und existierender Wirtschaftssysteme aufzudecken.

Wesentlichen Einfluss übten Anhänger der historischen Schule auch auf die Wirtschaftspolitik aus. Eine Realpolitik hatte der deutsche Kameralismus allemal als Basis für die deutsche Nationalökonomie bereitgestellt. Friedrich List engagierte sich so stark für die Vereinigung der kleinen deutschen Staaten, dass er zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde und gezwungen war, aus Deutschland zu fliehen. 97 Die Lehre Gustav Schmollers entstand als Antwort auf die politische, soziale und wirtschaftliche Problemlage seiner Zeit und seines Landes. Er beschäftigte sich intensiv mit dem Ausbau des Sozialstaates – vom Versicherungswesen bis hin zum städtischen Wohnungsbau, was ihn zur Bekanntgabe eines umfangreichen Politikprogramms führte. 98 Dieses wurde dann in dem von Schmoller, Brentano sowie Wagner 1872 gegründeten Verein für Socialpolitik vertreten, verbreitet und verteidigt. Zum wissenschaftlichen Beirat der Wirtschaftsadministration der angloamerikanischen Besatzungszone berufen, gelang es Walter Eucken, den Entscheidungsprozess durchschlagend zu beeinflussen, der die Rückkehr Westdeutschlands in den Kreis marktwirtschaftlich gesteuerter Länder nach dem Zweiten Weltkrieg ermöglichte. 99

So prägte die historische Tradition nicht nur lange Zeit den deutschen wirtschaftswissenschaftlichen Diskurs, sondern sie lieferte zudem der deutschen Wirtschaftspolitik ein immer wieder neues Ideenreservoir, das diese zu gebrauchen wusste. Aber so unterschiedlich die entstandenen Theorien waren, so breit streuten sich ihre abgeleiteten wirtschaftspolitischen Empfehlungen über das Spektrum der politischen Sensibilitäten. Schmoller unterstützte den Interventionismus und den Sozialismus. Von ihren Gegnern wurden die Mitglieder des Vereins für Socialpolitik sogar abwertend als „Kathedersozialisten“ bezeichnet. 100 Sombart hielt den Kapitalismus für eine Wirtschaftsaristokratie, auf die eine Demokratie folgen würde. 101 Dagegen schloss sich Eucken der mit der Weltwirtschaftskrise 1929-33 entstandenen „Kritik des Interventionismus“ an und erarbeitete die Grundsätze einer neoliberalen Wirtschaftsverfassung. 102

Betrachtet man aber die Weltwirtschaftskrise als Horizont, erweisen sich die wirtschaftspolitischen Forderungen der historischen Schule überwiegend als antiliberal. Grund für diese zeitliche Begrenzung sind die gravierenden Ereignisse, die mit der Großen Depression das wirtschaftliche und politische System der Weimarer Republik erschütterten, nach dessen Zusammenbruch Deutschland in die dunkelste Periode seiner Geschichte eintrat. 103 Die dadurch verursachten Veränderungen kamen dann in den Theorien der Nachkriegszeit klar zum Ausdruck.

Notes
95.

Tribe [1995: 1-8].

96.

Z.B. Schefold [1995a] oder Rieter [1994: 138-157].

97.

Tribe [1995: 42-43]; Gehrig [1950: VII-X].

98.

Backhaus [1994: 411].

99.

Broyer [2003: 201-220].

100.

Häuser [1994: 62].

101.

Sombart [1927: 31-32].

102.

Mises [1929]; Eucken [1948: 56-90].

103.

Hier wird keine Kausalität zwischen den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf Deutschland und der Machtübernahme durch den Nationalsozialismus, sondern nur eine zeitliche Abfolge angedeutet.