2. Der Beitrag Walter Euckens als endgültiges Ende der historischen Schule

Während eine breite Öffentlichkeit um den Ordoliberalismus weiß, bewegt sich die heutige deutsche Tradition in eher zurückgezogenen Kreisen – so Solows Wahrnehmung. Der überwiegende Teil zeitgenössischer deutscher Ökonomen möchte offenbar einzig noch auf dem Beitrag von Walter Eucken aufbauen. 104 Lediglich Bertram Schefold und seine Schüler halten die Erinnerung an den deutschen Historismus für aussichtsreich. Doch selbst der Frankfurter Wirtschaftsprofessor sieht in Euckens Beitrag das „final end of the historical school“. 105 Wenn die historische Schule, ob alt oder jung, seit Walter Eucken als passé gilt, liegt es daran, dass Eucken den Kreis Hegel’scher Dialektik – These, Antithese, Synthese – geschlossen hat.

Das Programm Schmollers als Hauptthese der historischen Schule wurde stark von Carl Menger kritisiert. Der Vorgänger der künftigen österreichischen Schule tat 1883 mit Veröffentlichung seiner „Untersuchungen über die Methode der Sozialwissenschaften und der politischen Oekonomie insbesondere“ den ersten Schritt zu einer Debatte mit Schmoller, die sich zu einer der heftigsten Auseinandersetzungen entwickelte, von denen die Nationalökonomie jemals erschüttert wurde, und seither als erster Methodenstreit in der Fachliteratur bekannt ist. 106 Anhand dieser Untersuchungen gelangte Menger zu dem Ergebnis, dass die historische Methode generell und das Programm Schmollers im Besonderen die Nationalökonomie auf eine falsche Bahn lenkten. Mit bloßer Kritik gab er sich allerdings nicht zufrieden, sondern schlug eine alternative Methode zur Analyse des Wirtschaftsprozesses sowie der Wirtschaftsinstitutionen vor, die historischen Bedingungen keinen Platz mehr ließ und dagegen rein theoretisch auf Basis strengsten Rationalismus vorging. Mengers Theorie gilt mithin als Antithese des Programms von Schmoller.

Neben dem Angriff Mengers gegen die etablierte Schule Schmollers bewegte ein zweites Ereignis die deutsche Wirtschaftswissenschaft, im Zuge dessen das ökonomische Denkbild von Walter Eucken an Profil gewinnen sollte. Nicht die Theorie, sondern der Wirtschaftsablauf selbst erschütterte diesmal das nationalökonomische Gedankengebäude.

In der Zwischenkriegszeit litt Deutschland unter einer dramatischen Währungskrise sowie einer generellen, weltweiten Wirtschaftskrise. Der „Großen Inflation“ 1914-1923 folgte die „Große Depression“ 1929-1933, 107 so dass die junge nach dem Ersten Weltkrieg gegründete Weimarer Republik sich mit einem äußerst ungünstigen wirtschaftlichen und sozialen Umfeld konfrontiert sah. Die Stabilisierung von Währung und Wirtschaft wurde zur höchsten Priorität der rasch wechselnden Regierungen. Einzig das Stoppen der galoppierenden Inflation 1924 brachte der deutschen Volkswirtschaft zum ersten Mal seit Kriegsende Entspannung in einem relativen Gleichgewichtszustand. Die Hochkonjunktur fand jedoch schon 1929 ihr Ende. Nach Spiethoffs Definition einer Wirtschaftskrise als krankhaftem Zustand der Wirtschaft zeugten die Symptome der Zwischenkriegszeit sicherlich von der schwersten Krise, die den deutschen Hochkapitalismus je traf. 108 Die Konsequenzen auf Produktion und Preise, Kapital und Kredit, Einkommen und Beschäftigung entwickelten sich so dramatisch, dass Wilhelm Röpke nicht mehr eine „Krise innerhalb des Kapitalismus“ sondern eine „Krise des Kapitalismus“ diagnostizierte. 109

Die hochvolatile Konjunktur und alle mit ihr verbundenen sozialen Konsequenzen forderten die Nationalökonomen heraus. Die am weitesten entwickelte Stufe einer „Weltwirtschaft“ schien den von Schmoller versprochenen sozialen Fortschritt nicht mit sich zu bringen. Offensichtlich erwies sich ebenfalls das Ricardo'sche Schema einer zum „steady state“ konvergierenden Marktwirtschaft als falsch. Vielmehr bestätigte sich, was Clément Juglar schon 1862 empirisch zeigte, nämlich dass der Wirtschaftsablauf einem Zyklus von bestimmter Länge folgte. Dies stützte die Meinung, Krisen seien kein isoliertes Phänomen, wie die Klassik glaubte, sondern sie würden periodisch auftreten.

Die deutsche historische Schule war in puncto Krisentheorie auf dem Vormarsch. Für Alfred Müller-Armack zählte Arthur Spiethoff zu den Gründern der induktiv-theoretischen Konjunkturlehre. 110 Joseph Schumpeter schrieb dazu sogar 1933 im Vorwort einer Festschrift zum 60. Geburtstag Spiethoffs: „Dieser Erbe der deutschen historischen Schule hat sich seinen eigenen Typus von Theorie erobert und treulich bewahrte Tradition mit dieser zu etwas Eigenem, Neuem, Echten vereinigt. 111 Dank Spiethoff und trotz der Niederlage im ersten Methodenstreit zeigte sich die historische Schule nach wie vor als eine der fortschrittlichsten Lehren sowohl der deutschen als auch internationalen Nationalökonomie.

Doch scheiterte Spiethoff als Krisentheoretiker daran, dem angeschlagenen Deutschland wirtschaftspolitisch zu helfen. Für die monetären Probleme des Landes erforschte er keine Gründe, sondern behandelte die Hyperinflation als exogenen Faktor, um die Härte zu erklären, mit der Deutschland anschließend von der Weltwirtschaftskrise getroffen wurde. Zu Letzterer nahm er in der Leipziger Illustrierten Zeitung vom 15. Oktober 1931 in seinem Aufsatz „Unsere Wirtschaftslage im Lichte der Geschichte“ Stellung. 112 Der große Krisentheoretiker diagnostizierte den Ausnahmefall, der den Rahmen seiner Theorie sprengte. Aus der Vergangenheit sei nichts für die gegenwärtige Krise zu lernen. So modern sie auch gewesen sein mag, erwies sich die historische Methode zur Behandlung praktischer Wirtschaftsprobleme als nutzlos.

Insbesondere durch die Initiative Adolf Webers (1876-1963) wurden in Deutschland nach jenen wirtschaftlichen und sozialen Erfahrungen die „Aufgaben der Volkswirtschaftslehre als Wissenschaft“ neu untersucht. In diesem Kontext fragte sich der Freiburger Professor Walter Eucken als Anhänger von Webers Ideen und in Bezug auf die historische Schule: „Ist es nicht zwecklos einer solchen Wissenschaft zu vertrauen? [...] Wozu also Nationalökonomie? 113 Er rief dann mit großer Resonanz zur „Überwindung des Historismus“ auf. 114 Sein erster Schritt bestand darin, sich kritisch mit dem Gedankengut von Schmoller und Menger auseinander zu setzen, um letztendlich eine Synthese vorzuschlagen. Seine „Ordnungstheorie“ hat im Gegensatz zu Menger Platz für historische Bedingtheiten des Wirtschaftsprozesses geschaffen. Denn: „Alles menschliche Tun ist Geschichte.“ 115 Eucken wollte aber im Gegensatz zur historischen Schule mit deduktiver Arbeitsweise vorgehen, gemäß seiner Überzeugung: „Echte Theorie entsteht aus strengem Gebrauch der Vernunft in Untersuchung der Tatsachen zur wissenschaftlichen Erklärung der konkreten Wirtschaft.“ 116 In Letzterer lasse sich trotz geschichtlicher Besonderheiten stets ein „invarianter Gesamtstil“ erkennen, der theoretisiert werden könne. Insofern stellt sich laut Eucken die Aufgabe des Nationalökonomen bei der Analyse von Wirtschaftsphänomenen gleichzeitig als ein „theoretisch-allgemeines“ sowie „historisch-individuelles“ Problem dar. 117 Auf dieser Motivation beruht Euckens Lebenswerk, welches man auch als „endgültiges Fazit zum Konflikt zwischen Kontingenzdenken und theoretischem Absolutheitsanspruch“ auffassen kann 118 .

Notes
104.

Vanberg [1988: 17-31]; Streit [1995]; Leipold [1995].

105.

Schefold [1995b].

106.

Dazu war Gustav Schmoller in einen zweiten Methodenstreit mit einem weiteren Vertreter der österreichischen Schule, Eugen von Phillipovitch, über den normativen Charakter nationalökonomischer Aussagen involviert, für welchen Schmoller aber auch Max Weber sich stets einsetzten, während Phillipovitch die Ansicht einer positivistischen Wissenschaft verteidigte.

107.

Blaich [1985: 7-18].

108.

Spiethoff [1925: 9].

109.

Röpke [1932: 3].

110.

Müller-Armack [1929: 646].

111.

Schumpeter [1933: V].

112.

Dieser Zeitungsartikel Spiethoffs wurde in der Auflage von 1955 seiner Wirtschaftlichen Wechsellagen bei J.C.B. Mohr unter den Absatztiteln „Die deutsche Wirtschaftsstockung 1929 und die Kreditklemme 1931“ (Seiten 139 bis 145) neu gedruckt.

113.

Eucken [1938a: 8].

114.

Eucken [1938b: 191-194].

115.

Eucken [1940: 16].

116.

Ebd.: 227.

117.

Ebd.: 15-23.

118.

Herrmann-Pillath [1987: 37].