3. Problemstellung und Vorgehensweise

Die vorliegende Dissertation beschäftigt sich mit drei Frageblöcken:

[1] Was haben der Beitrag von Eucken und die historische Schule mit dem Kameralismus gemeinsam, so dass Tribe eine zweihundert Jahre lange Tradition deutscher Nationalökonomie zu erkennen vermag? Wenn diese Ära mit Euckens Ordoliberalismus endet, ist selbiges Kapitel der Nationalökonomie dann tatsächlich ein für alle Mal abgeschlossen? Könnte die besondere Fragestellung oder Methode deutscher Tradition vielleicht nicht doch aktuell wichtige Angelegenheiten der Wirtschaftswissenschaft tangieren?

[2] Wie kam Walter Eucken dazu, sich die Überwindung des Historismus zur Lebensaufgabe zu machen? Welche Kenntnisse und Erfahrungen sammelte er, um ein solches Projekt in Angriff zu nehmen? Denn wie oft bei brisanten Innovationen galt es nicht nur, das verfügbare aber diffuse Wissen in der Manier von Hayeks Unternehmertyp zusammenzutragen. 119 Vielmehr musste auch der historisch richtige Moment gekommen sein. Dementsprechend lautet die Botschaft von Schumpeter, die Wirtschaftstheorie in ihrer „intellectual scenery“ zu analysieren. 120

[3] Wenn Euckens Ordnungstheorie tatsächlich das endgültige Ende der historischen Schule bedeuten soll, heißt dies zugleich, dass sie als Synthese der Methoden von Schmoller und Menger überzeugen muss. So schrieb Ludwig von Mises einst an die Vertreter der historischen Schule gewandt: „Versuchet ein System theoretischer Erklärung aufzustellen, das euch mehr befriedigt als unseres. Dann wollen wir erst weiter reden.“ 121 Doch wie ist Euckens System theoretischer Erklärung aufgebaut, dass es den Konflikt zwischen Kontingenzdenken und theoretischem Absolutheitsanspruch auflösen und von Menger für antinomisch gehaltene Ansätze zusammenbringen kann? Überwindet Walter Eucken den Historismus wirklich oder scheitert er ebenso, wie – seiner Meinung nach – schon Spiethoff in derselben Absicht gescheitert war? Und weiter: Hat Spiethoffs konkurrierendes Projekt das Programm von Schmoller tatsächlich nicht überzeugend erneuert? Ist der aktuelle Fokus deutscher Nationalökonomie auf den alleinigen Beitrag Euckens gerechtfertigt?

Zur Beantwortung dieser drei Frageblöcke geht die vorliegende Arbeit nach folgendem Aufbau vor:

[1] Der erste Teil ergründet die Tradition deutscher Nationalökonomie, um Euckens Erbe, die „intellectual scenery“, in der er beheimatet war, zu kennzeichnen. Gemäß Tribes Einordnung beginnt die Darstellung mit den Vorläufern der historischen Schule: dem Kameralismus, Adam Müllers romantischer Lehre sowie Friedrich Lists Theorie der produktiven Kräfte. Hier wird insbesondere auf deren Kritik an der klassischen Ökonomie von Smith eingegangen. Danach wird das Denkgebäude der alten historischen Schule eingehend untersucht. Anschließend widmet man sich dem Programm von Schmoller sowie Carl Mengers Kritik daran und ihrer Überwindung durch Werner Sombarts und Arthur Spiethoffs neohistorische Ansätze. Zum Abschluss dieses ersten Teils gilt das Interesse den Frühschriften von Walter Eucken, unter denen seine Dissertation und Habilitation zu verstehen sind. Hier geht es darum festzustellen, wie nahe an Schmollers Programm sich die wissenschaftliche Prägung eines zukünftigen Kritikers der historischen Schule am Anfang seiner Karriere bewegte.

[2] Im zweiten Teil werden die einschneidenden Erfahrungen der Hyperinflation und Weltwirtschaftskrise in Erinnerung gerufen. Zweck ist es zu verstehen, wie beide Ereignisse das Denkbild der historischen Schule erschütterten sowie aufzuzeigen, welche Lehren Walter Eucken daraus zog. Zunächst begibt man sich auf das Feld der Konjunkturtheorie, unter dem Hinweis auf die schwierige Einbettung dieser Thematik in die allgemeine Wirtschaftswissenschaft aufgrund des alten Say’schen Theorems der Unmöglichkeit von Wirtschaftskrisen. Damit wird deutlich, dass die vorgestellte theoretische Konjunkturforschung vor der Weltwirtschaftskrise 1929-1933 noch keine abgeschlossene Lehre bildete. Dagegen wirkten im seinerzeitigen Kontext die deutschen konjunkturtheoretischen Ansätze im Umkreis der historischen Schule recht modern. Diesbezüglich richtet sich der Fokus stark auf die Typisierung des Konjunkturzyklus von Arthur Spiethoff. Sodann wird die deutsche Konjunkturtheorie auf den Prüfstein der Hyperinflation und Großen Depression gestellt. Nach einer detaillierten Analyse beider Geschehnisse lässt sich mit etwas geschichtlicher Distanz erläutern, warum es der historischen Schule nicht gelang, eine Krisenlösung vorzuschlagen. Abschließend wird Euckens bahnbrechende Doppelkritik an der Stellungnahme der historischen Schule zum Geldproblem und zur Wirtschaftskrise vorgestellt. Sie gilt als Initialzündung für seine Überwindung des Historismus.

[3] Im dritten bzw. letzten Teil dieser Arbeit findet sich Euckens Vorschlag zum Bezwingen des Historismus erklärt. Zunächst wird an seine kritische Haltung gegenüber Schmoller sowie Menger erinnert. Dabei gibt eine Auflistung von acht Punkten Aufschluss über Euckens Emanzipation von der historischen Schule. Im Folgenden erkennt man das „Denken in Ordnungen“ als Ausgangspunkt seiner Theorie und einzig denkbarem Weg für eine Synthese des ersten Methodenstreits. Dann wird Euckens Artikulation zwischen „Wirtschaftssystem“ und „Wirtschaftsordnung“ erklärt, die Theorie und Empirie in Einklang bringen soll. Doch stellt sich heraus, dass diese Artikulation als rationalistisches Konstrukt versagt, sondern viel besser in den methodischen Rahmen der historischen Schule passt. Walter Euckens Beitrag zur Nationalökonomie endet aber nicht mit der Ordnungstheorie. Ein weiterer Abschnitt wendet sich seinem wirtschaftspolitischen Ansatz zu. Hier wird der so genannte „Ordoliberalismus“ charakterisiert sowie das praktische Engagement von Eucken als berufenes Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Wirtschaftsverwaltung der Bizone für Westdeutschlands Rückkehr zur Marktwirtschaft beschrieben. Zu guter Letzt erfährt der Leser, wie Euckens Lehre heute auf der deutschen akademischen Bühne fortlebt und in welche Richtung sie sich weiterentwickeln kann.

Notes
119.

Ioannides [1994].

120.

Schumpeter [1955: 407].

121.

Mises [1929: 30].