1.1. Die Vorläufer der historischen Schule

1.1.1. Der Kameralismus

Der Kameralismus ist bekannt als deutsch-österreichische Variante des Merkantilismus. 126 Letzterer entstand im Laufe des sechzehnten Jahrhunderts mit der Bildung nationaler Einheitsstaaten in Europa. Bis zum achtzehnten Jahrhundert prägte die merkantilistische Wirtschaftspolitik die koloniale und industrielle Expansion der absolutistischen europäischen Königshöfe. Besonders starkes Echo fand der Merkantilismus in Spanien, Holland, England und in Frankreich (hier durch die Politik des Generalkontrolleurs der Finanzen von Ludwig XIV., Jean-Baptiste Colbert).

Obwohl sie von Land zu Land variierte, basierte die merkantilistische Wirtschaftspolitik insgesamt auf folgenden gemeinsamen Ideen. Im Unterschied zur mittelalterlichen Scholastik, die im Wort Christi nach einer Begrenzung des Wirtschaftslebens suchte, trennte sich der Merkantilismus von einer spirituellen Ethik. Er befürwortete dagegen das Streben nach Reichtum für die Wirtschaftssubjekte, allerdings hauptsächlich für den Staat: Geld bekam einen inneren Wert. Reichtum bemaß sich nach dem Kassenbestand, ohne dass zwischen Bargeld und Kapital unterschieden wurde. Um Reichtum anzusammeln, verfügte der merkantilistische Staat über drei Grundrezepte: Der Doktrin der so genannten „Bullionisten“ zufolge konnte er erstens Edelmetall importieren und sich bemühen, den neuen Besitz im Land zu halten. Dieser Art der Schatzbildung widmete sich primär Spanien, indem in Zentralamerika aktiv nach Gold gesucht wurde. Vor allem Holland und England praktizierten Anfang des siebzehnten Jahrhunderts die Erhöhung des Aktivsaldos der Handelsbilanz als zweite Möglichkeit der Bereicherung. Hierbei sollte lediglich die oftmals mit Anwendung von Gewalt verbundene Goldeinfuhr aus den Kolonien durch den Handel ersetzt werden. Es galt, die Einfuhr von Gütern zu minimieren sowie die Ausfuhr zu forcieren. Die merkantilistische Konzeption des Handels blieb demnach von der liberalen Theorie des neunzehnten Jahrhunderts weit entfernt: Der grenzüberschreitende Warenaustausch entsprach einem typischen negative sum game, vor dem sich jedes Land durch Handelsschranken schützen sollte. Folglich war es geboten, auf nationalem Boden durch Entwicklung der produktiven Kräfte, die Wettbewerbsfähigkeit im Außenhandel zu fördern. Auf diese dritte wirtschaftspolitische Säule des Merkantilismus legte Colbert besonderen Wert. So befürwortete seine Staatskunst niedrige Löhne sowie moderate Zinssätze zur Senkung der Produktionskosten, eine aktive Bevölkerungspolitik zur Gewährleistung reichlicher Arbeitskraft und die Reform der staatlichen Finanzen im Sinne einer Reduktion der direkten Steuern. Zu dieser Politik zählte außerdem die Gewährung von Subventionen und die Errichtung staatlicher Manufakturen im ergiebigen Industriesektor oder in der Luxusindustrie. 127

Während der Merkantilismus in den anderen europäischen Ländern vorzugsweise von der wirtschaftlichen und politischen Betrachtung der nationalen Expansion ausging, zeigt der deutsche Kameralismus ein anderes Gesicht. Dessen Originalität liegt weniger im Bereich der Wirtschaftspolitik. Obwohl seine Prinzipien nicht immer mit der restlichen europäischen Doktrin übereinstimmen, bleibt der Kameralismus in puncto Wirtschaftspolitik ein „Kind des Merkantilismus“. 128 Das besondere Kennzeichen des Kameralismus besteht vielmehr in seiner Organisation der wissenschaftlichen Lehre sowie in der Gesellschaftsidee, welche die Kameralwissenschaften propagierten.

In den Ländern deutsch-österreichischer Machtballung wurden seit Anfang des sechzehnten Jahrhunderts die Interessen des Landesfürsten über so genannte Kammern vertreten. 129 Ihnen oblag die Verwaltung der Domäne und Regalien. Bald erweiterte sich der Kompetenzbereich auf Polizeigeschäfte. 130 Als Ebenbild des politischen Absolutismus entwickelten sich die Kammern zu allmächtigen Verwaltungsorganen, deren Aufgabengebiet „Fiscalsachen“, „Oeconomiesachen“ und „Polizeysachen“ abdeckte. 131 Währenddieser Phase konstituierte sich ein neues Beamtentum, indem sich die Staatsverwaltung als berufliche Tätigkeit etablierte. Jedoch blieb der Kameralismus bis Anfang des achtzehnten Jahrhunderts nur eine Kammernpraxis. „Man machte sich […] „vernünftige Gedanken“ über die ökonomischen Tatsachen, und suchte wissenschaftlichen Geist namentlich durch weitgehende Begriffsspaltungen und enorme Häufung von Paragraphen zu bekunden.“ 132 Als für die Ausbildung der neuen Verwaltungsberufe ein offizielles Schulungssystem mit eigener Doktrin eingerichtet wurde, trat der Kameralismus in eine zweite Phase ein. Im Jahre 1727 gründete Friedrich Wilhelm I. in Halle die erste Professur für Kameralwissenschaften. Sie umfasste eine Staats- und Betriebswirtschaftslehre, Polizei- und Finanzwissenschaft sowie Naturkunde. Der Kameralismus entwickelte sich als „Zusammenfassung von Privat- und Sozialökonomie, verbunden mit einer Betriebslehre und Technik“ zu einer Generalwissenschaft der Staatsverwaltung. 133 Diese Organisation der Lehre bildet einen Teil des Wurzelstocks für das künftige Konzept der Staatswissenschaften, aus dem später die deutsche Nationalökonomie erwachsen sollte. 134 Die von den Klassikern eingeführte Konzeption einer Wissenschaft der Nationalökonomie als Theorie des Nationalreichtums ist in den Augen der Kameralisten nur als ein Aspekt der Staatswissenschaft zu verstehen. 135

Als Finanz-, Wirtschafts- und Polizeiwissenschaft widmet sich die kameralistische Lehre einem breiten Arbeitsfeld, das für unsere Konzeption der modernen Volkswirtschaftslehre unüberschaubar erscheint. Der erste Teil entspricht der Finanzverwaltung des Staates im üblichen Sinne. Die Abgrenzung zwischen Oeconomie- und Polizeysache stellt dagegen eine Eigenheit dar. „[…] Oeconomie relates this activity of administration materially to the objectives of happiness; and Polizei concerns itself with the general condition of order prevailing in the state. 136 Unter ökonomischem, materiellem Wohl ist die gute Haushaltung des Staates zu verstehen, deren Rezepte nur marginal vom Merkantilismus abweichen. 137 Der Unterschied des kameralistischen Diskurses zum übrigen europäischen Merkantilismus liegt in der polizeilichen Aufgabe, die man sich stellt, bzw. in der Komplementarität zwischen den verschiedenen Aufgabenbereichen. Unter Erstere fallen alle polizeilichen Maßnahmen, die der Ordnung des Staates und der Gesellschaft dienen. Dazu gehören nicht nur Rechtsregeln sondern alle regulativen Momente, die die gute moralische Ordnung innerhalb der Gesellschaft gewährleisten. Diese Aufgabe geht von folgender grundlegender Annahme aus: „The social body is an aggregate of persons who require, for achievement of order, welfare and harmony, a constant work of regulation. Social morality does not arise spontaneously, but must be constructed by a deliberate work of regulation.“ 138 . In der Tat beachten die deutschen Kameralisten die von Mandeville 1705 verfasste Bienenfabel nicht, derzufolge persönlicher Egoismus naturbedingt sozial nützlich wirkt und die Aufgabe des Gesetzgebers in dem Versuch besteht, die menschliche Nichtigkeit zugunsten der Gemeinschaft zu fördern. 139 Im Gegenteil, der Kameralismus leitet die Daseinsberechtigung der Politik aus der aristotelischen Lehre ab. 140

Der griechische Philosoph unterscheidet zwischen den zwei Gesellschaftsformen des Oikos und der Polis. Anders als im präpolitischen Oikos, der durch Zwang regiert wird, herrscht in der Polis das bürgerliche Handeln vor, wobei Tugend die Voraussetzung und Glückseligkeit das Ergebnis sind. Politik hat als Ziel, die überlegene Gesellschaftsform der Polis zu gestalten bzw. das Glück ihrer Bürger zu gewährleisten. Zweck der Staatsführung ist es daher, Anleitung zum sittlichen Handeln in der Gemeinschaft zu geben. Eine solche eudämonistische Politikanschauung machen sich die Kameralisten zu eigen. In der Tradition des europäischen Absolutismus schließen sie sich der antiken Staatsidee auch insofern an, als sie die Auffassung teilen, dass das Individuum keine Existenz außerhalb des Staates finden kann. Die Staatsgewalt ist also verpflichtet, in allen Lebensbereichen der Untertanen für Glück zu sorgen.

Die Kameralisten weichen in einem wesentlichen Punkt von der antiken Lehre ab. Bei Aristoteles kann der Mensch Tugend nur erlangen, nachdem er sich von den Notwendigkeiten des physischen Daseins – z.B. der Produktion und Distribution von Gütern – frei gemacht hat: Glückseligkeit bedeutet Glück der Seele. Die Kameralisten weisen hingegen auf die materiellen Lebensbedingungen der modernen Polis hin: „Glückseligkeit ist […] identisch mit der Verfügung über die Mittel des physischen, ökonomischen und affektiven Wohlergehens.“ 141 Förderung der Wirtschaft, ethischer und rechtlicher Konstruktivismus durch Polizeimaßnahmen sind folglich im deutschen Kameralismus die komplementären Instrumente eines eudämonistischen Staates. Daher bilden Finanz-, Wirtschafts- und Polizeisachen keine verschiedenen Domäne einer gespaltenen Staatsverwaltung, sondern sie verschmelzen in einer Wissenschaft der Kammersachen. Ihre inhaltliche Abgrenzung ist an die primäre Zielsetzung allgemeiner Glückseligkeit gebunden.

Notes
126.

Zielenziger [1926: 574-575].

127.

Piettre & Reslob [1986: 41-47]; Schmidt [1994; 37-62]; Gonnard [1930: 6. Buch, 3. Kap.]

128.

Zielenziger [1926: 574].

129.

Diese nach dem burgundischen Vorbild errichteten Verwaltungsorgane wurden 1497/98 von Maximilian I. zunächst in Österreich eingeführt und verbreiteten sich auf die deutschen Territorialstaaten (Ebd. 574).

130.

Roscher [1886: 41-42].

131.

Schmidt [1994: 47].

132.

Lexis [1989: 2-3].

133.

Zielenziger [1926: 575].

134.

Brückner [1977: VII].

135.

Lexis [1907: 2-13].

136.

Tribe [1995: 11].

137.

Wie der Merkantilismus fordert der Kameralismus beispielsweise die wirtschaftliche Entwicklung der produktiven Kräfte des Landes. Im Unterschied zum Merkantilismus erklärt er aber nicht die Industrie als vorrangig gegenüber anderen Sektoren (Ebd. 18).

138.

Ebd. 24.

139.

Bréhier [1962: II. Band, 2. Buch, Kap 2].

140.

Brückner [1977: 270ff.]

141.

Ebd. 273.