1.1.2. Die romantische Nationalökonomie Adam Müllers

Im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts zerbricht vollkommen, was an mittelalterlichen Verhältnissen noch verblieben war. Die Philosophie der Aufklärung zeugt vom Fortschritt der naturwissenschaftlichen Bildung, der kritischen Beobachtung sowie der rationalen Methode. Mit den Physiokraten und den Klassikern passt sich die Nationalökonomie dieser neuen Zeit an. Im Gegensatz zu den Merkantilisten, die sich auf empirisch-realistische Theorien stützten, strukturieren die Physiokraten ihre Wirtschaftslehre auf der Basis reiner, rationaler Konstruktionen. 142 Während der Protektionismus noch zu den Rezepten der alten Zeit zählte, argumentiert jetzt Adam Smith für die Auflösung aller Monopole und Privilegien in Gewerbe und Handel. Aufgrund der Effizienz einer Freiheitsordnung, die durch eine natürliche ethische Bindung des Menschen gegenüber seinen Mitmenschen garantiert ist, soll der liberale Nachtwächterstaat der Gesellschaft so viel Freiheit lassen, dass der individuelle Eigennutz dem Wohlstand aller dient. 143 In weiten Teilen Europas entfaltet sich der Kapitalismus immer mehr und wird ab 1760 zum „herrschenden Wirtschaftssystem.“ 144 England profitiert besonders von diesem neuen Wirtschaftssystem. Nach Aufhebung der Continentalsperre erreicht das Land in der Industrie sowie im Außenhandel eine dominante Position. 145 Ferner beseitigt 1789 die französische Revolution die alten Feudalrechte und schreibt dem Staat eine völlig andere politische Rolle zu. Mit Einführung der ersten staatlich garantierten Papierwährungen, wie z.B. 1792 des französischen „Assignats“, bricht das monetäre Fundament der Merkantilisten. Nach dem Frieden von Tilsit 1807 scheinen sich alle europäischen Nationalstaaten der Universalherrschaft Napoleons zu unterstellen. Sowohl wissenschaftlich als auch philosophisch, wirtschaftlich wie politisch erwecken demnach die Schranken der alten Zeit den Eindruck, eine nach der anderen fallen zu sollen. 146

Jene Epoche rascher und grundlegender Transformationen ruft Widerstandsbewegungen hervor. In Deutschland entsteht die Romantik als Reaktion auf diese Fortschritte sowie auf die Hegemonie ausländischer Mächte. Man plädiert für die Rückkehr zu mittelalterlichen Verhältnissen. 147 Zunächst lässt sich entsprechender Widerstand in der Kunst spüren. Da der romantische Geist aber gerne im Ganzen denkt, erfasst er verschiedene Disziplinen, um schließlich Politik, Philosophie, Geschichte und Ästhetik zu tangieren. 148 Isolierte Beiträge der Romantik zu einer Wirtschaftslehre sind deshalb selten. Zu ihnen zählen vor allem die „Elemente der Staatskunst“ von Adam Müller (1809).

Wie Fichte, der auf den wirtschaftlichen Notstand breiter Bevölkerungsschichten Preußens und Englands im Jahre 1800 mit der Auflage seines „geschlossenen Handelsstaats“ reagierte, 149 widmete sich Adam Müller der Politik. Der politischen und wirtschaftlichen Weltherrschaft, welcher Deutschland Anfang des neunzehnten Jahrhunderts unterlag, stellte er die Nation als Maßstab des menschlichen Lebens gegenüber. 150 Der Aufklärungsphilosophie bzw. ihrer Grundlage der persönlichen Freiheit, der naturrechtlichen Gesellschafts- und Staatsordnung setzte er die historische Entwicklung sowie eine organische Anschauungsweise entgegen. 151 Ausgangspunkt für Müllers Staatskunst war seine Kritik an der – quasi alle Züge der Aufklärung in sich vereinenden – Lehre Adam Smiths.

Laut Müller finden sich in der Wirtschaft dieselben Gegensätze wie in der menschlichen Gesellschaft: Mann und Weib, Jugend und Alter, Bewegliches und Unbewegliches, Produktion und Konsumtion, Bedürfnis und Arbeit, usw.. 152 Die Arbeit wird in Stände und Staatsarbeit oder Handel, Handwerk und Erdarbeit aufgespaltet. Darunter gliedert sich das Handwerk in Nahrung, Kleidung, Wohnung und Geräte. Das Bedürfnis teilt sich in ein geistiges Bedürfnis des Alters sowie ein physisches Bedürfnis der Jugend. Das männliche Bedürfnis ist jenes zu produzieren, das weibliche jenes zu konsumieren. 153 Diese Teilung der Wirtschaftselemente erhält insofern ihren Sinn, als sie alle in Verbindung zueinander gesetzt werden: jede Tat der Einzelnen tritt gleichzeitig als Akt der Ganzheit in Erscheinung. So bildet die Wirtschaft einen „lebendigen Organismus“, den das harmonische Zusammenleben der Gegensätze im Gleichgewicht hält. Die Wirtschaft koordiniert sich nicht nur auf der Basis technisch geteilter individueller Arbeit, sondern durch die Harmonie der gesellschaftlichen Gegensätze: Damit die Frau konsumieren kann, muss der Mann produziert haben.

Der Lehre der Gegensätze zufolge verkennt die von Smith dargestellte „Ökonomie der Sachen“ die echte Natur des Menschen und desorganisiert die Gesellschaft. Der Tausch des Privateigentums zerstöre alle Gefühle der Gemeinschaft und stehe im Gegensatz zur Idee einer National-ökonomie. Smith mangele es an einer „Theorie der Arbeitsvereinigung.“ Sie allein vermöge, die Menschen zu einer geistigen Einheit zu führen. In diesem Zusammenhang nimmt Müller an, dass zum Wohlstand einer Gesellschaft auch das geistige Kapital zählt: Die Sprache bzw. alle Institutionen der Gesellschaft machten den Reichtum derselben aus. Nur weil England über ein außerordentliches Nationalkapital an geistigen und rechtlichen Institutionen verfüge, die für den Ausgleich der Gegensätze sorgten, sei das Land in der Lage, die Arbeitsteilung als Prinzip des Wirtschaftslebens zu implementieren. Smiths Schaffenswerk sei mithin „eine einseitige Lehre der britischen Industrie und Geldwirtschaft“, ein Herrschaftsinstrument, vor dem sich alle anderen Nationalökonomien durch protektionistische Maßnahmen schützen müssten. 154

Hier bleibt allerdings zu fragen, ob Müller bei seiner Kritik nicht den gleichen Fehler beging, der ebenfalls vielen modernen Ökonomen in ihrer Interpretation Smiths unterläuft. Denn den Fokus auf „Wealth of Nations“ zu richten, verschleiert die Tatsache, dass für Smith eine arbeitsteilig organisierte Wirtschaft auf der ethischen Grundlage der „Theory of moral Sentiment“ funktioniert. Dies scheint Müller zu ignorieren. Entscheidende Bedeutung hat der Unterschied, dass nach Smith das geistige Kapital dem Menschen angeboren bzw. von der Natur gegeben ist – also kein Kapital im wirtschaftlichen Sinne darstellt –, während es nach Müller einem Reichtum entspricht, der im Laufe der Geschichte akkumuliert wird. Damit lässt sich der politische Konservatismus Müllers erklären: Das von ihm verteidigte Gewohnheitsrecht wird völlig legitimiert, wenn man annimmt, dass ein „abgerissener Traditionsfaden“ – wie für ihn im Falle der französischen Revolution – einen unwiderruflichen Kapitalverlust bedeutet. 155 Da Müller die Wirtschaft außerdem organisch nach Ständen gliedert, fordert er die Rückkehr zur mittelalterlichen Ordnung. Seines Erachtens tragen allein die Stände den naturbedingten Gegensätzen der menschlichen Gesellschaft Rechnung. 156

Die Vertreter der romantischen Nationalökonomie fassen nicht nur die Wirtschaft als Organismus auf, sie nennen auch den Staat „Überorganismus“.Als solcher soll er zwischen sämtlichen in der menschlichen Gesellschaft vorhandenen Gegensätzen vermitteln, sie in sich aufnehmen und dadurch den Frieden verwirklichen. 157 Müller betrachtet dieses Vermitteln als Kunst. Die „Staatskunst“ entspreche sogar der höchsten Kunst, die existiere. Bei der Malerei liege die Kunst z.B. darin, gegensätzliche Farben miteinander zu verbinden, so dass Schönheit als symbiotische Einheit entstehe. Anders als bei den Künsten im herkömmlichen Sinne gehe es in der Politik eher darum, lebendige Gegensätze in Einklang zu bringen. Nur der Staat, dessen künstlerisches Geschick ausreichend ausgeprägt sei, um die Schönheit zum Parameter der Politik zu machen, könne ein wahrhaft humaner Staat sein. 158 Ferner findet bei Müller der Staat als Organismus seinen Zweck in sich selbst begründet und ist das Maß aller Dinge, d.h. des ganzen menschlichen Lebens. Sämtliche Individuen sind in ihm subsumiert: „Der Staat ist das Bedürfnis aller Bedürfnisse, des Herzens, des Geistes und des Leibes; der Mensch kann ohne den Staat nicht hören, nicht sehen, nicht denken, nicht empfinden, nicht lieben; kurz, er ist nicht anders zu denken als im Staate.“ 159 Ähnlich wie bei Aristoteles wird hier der Mensch lediglich als eine Komponente der Polis verstanden.

Abschließend erscheinen einige Anmerkungen zu Müllers Methodik geboten. Beim analytischen Aufbau der romantischen Nationalökonomie ist die Kunst allgegenwärtig. Sie gilt als primäres Mittel, um Erkenntnis zu erlangen und formt eine „Gegen-Vernunft“ in strengster Opposition zur rationalen Methode der Aufklärung: „Müllers Kunst ist seine Theorie, Müllers Logik ist seine Ästhetik.“ 160 Hinter dieser Ansicht stehen zwei zentrale Überlegungen. Zum Ersten sind Wissenschaft und Kunst ineinander verschmolzen: Überzeugungskraft gründet auf der „Gewalt der Schönheit.“ 161 Zum Zweiten bedingen die ästhetischen Ansprüche der Romantik, dass der „Wissenschaftskünstler“ beim Darstellen seines Forschungsobjektes eine aktive Haltung einnimmt. „Zu beschreiben heißt zu beleben“, schrieb einst Schelling. 162 Getreu dieser Lehre erklärt Müller, dass der Staat – aber auch die Gesellschaft oder die Wirtschaft – nicht erlernt, sondern nur erlebt werden kann. 163 Subjektivität, Intuition und Poesie gehören zur Methodik der romantischen Nationalökonomie.

Notes
142.

Spiethoff [1932: 12].

143.

Schefold & Carstensen [1994: 65-67].

144.

Sombart [1902: XI].

145.

Knies [1883: 282-283].

146.

Ebd. 279.

147.

Baxa [1926: 117].

148.

Koehler [1980: 9].

149.

Bréhier [1962: 604-605]. Fichte konstatierte die Ungerechtigkeit der neu industrialisierten Gesellschaft, da größter wirtschaftlicher Notstand und immense Reichtümer koexistierten. Für die unbefriedigende Lage machte Fichte die internationalen Handelstätigkeiten verantwortlich.

150.

Koehler [1980: 102].

151.

Hildebrand [1848: 27-30].

152.

Koehler [1980: 58-59]. Diese „Lehre vom Gegensatz“ als strukturelle Darstellung eines Gegenstandes entlehnt Müller dem romantischen Philosophen Schelling.

153.

Ebd. 98.

154.

Hildebrand [1848: 30-35].

155.

Koehler [1980: 92-94].

156.

Baxa [1926: 118].

157.

Koehler [1980: 86].

158.

Ebd. 76-80.

159.

Müller zitiert in Hildebrand [1848: 36].

160.

Koehler [1980: 109-112] Zitat S. 110.

161.

Ebd. 83.

162.

Ebd. 84.

163.

Hildebrand [1848: 37]; Rieter [1994: 134-135].