1.1.3. Friedrich List

1.1.3.1. Zwischen romantischer und klassischer Schule: Die Lehren der Geschichte

Der Versuch, Friedrich List einer zu seiner Zeit existierenden Denkrichtung zuzuordnen, muss scheitern. Er ließ unterschiedliches Gedankengut auf sich einwirken, um schließlich seine eigene Theorie zu formulieren. Als Beamter in Ulm und später Mitglied des württembergischen Rechnungsrats wurde ihm die Nationalökonomie an einem Lehrstuhl für Kameralwissenschaft nahegebracht. Doch er befasste sich weniger mit der Wirtschaftsliteratur seiner Landsleute, sondern vorwiegend mit der neuen Lehre Adam Smiths. Interesse zeigte er außerdem für das Leben und die Schriften großer Staatsmänner, ignorierte den „geschlossenen Handelsstaat“ Fichtes und las Müllers „Elemente der Staatskunst“ erst kurz vor seinem Tod. 164 Seine Theorie leitete er hauptsächlich aus Ideen des amerikanischen Staatsmanns Alexander Hamilton ab, der dem freien Handel kritisch gegenüberstand sowie Schutz der nationalen Industrie für nötig hielt. 165 Diese Verbindung zur amerikanischen konservativen politischen Ökonomie schuf List bei einem von vielen Auslandsaufenthalten, als er wegen unerwünschtem politischen Aktivismus aus Deutschland fliehen musste. 166 In der Tat nahm er in der deutschen Nationalökonomie einen Platz als „großer Agitator“ ein. Für Schmoller war Friedrich List ein „zündender Schriftsteller, aber kein Mann der Lehrbücher und Paragraphen.“ 167 Als Letzterer 1840 schließlich nach Deutschland zurückkehrte, übte er wirksamen Einfluss auf die Debatte um den inneren Zollverein und den Aufbau des Eisenbahnnetzes aus.

Doch in vielen Punkten weist die Theorie Lists noch starke romantische Züge auf. 168 Der Tadel, Smiths Lehre leide unter bodenlosem Kosmopolitismus, totem Materialismus sowie desorganisierendem Partikularismus und Individualismus, 169 steht zum größten Teil in Einklang mit der Kritik Adam Müllers. Maßstab der Wirtschaft ist nicht „das ganze menschliche Geschlecht“ wie bei Smith, sondern wie bei Müller das nationale Volk. 170 Dem geistigen Kapital erkennt List einen ebenso hohen Wert wie dem materiellen Reichtum einer Nation zu. Er sieht die Wirtschaft als einen Organismus, dessen verschiedene Teile in Abhängigkeit zueinander stehen. Aus diesem Blickwinkel kommt der Wirtschaft auch keine primäre Bedeutung zu: Sie konstituiert wiederum nur einen Teil der Nation. 171 Jenseits dieser ähnlichen Züge nimmt aber die Kritik Lists einen ganz anderen Verlauf als die von Müller. Wo Letzterer im Namen des mittelalterlichen Systems protestiert und den Interessen der Grundaristokratie dient, plädiert List für die moderne Wirtschaft und vertritt die neu entstandene Industrie. Wo Müller dem Individuum außerhalb der Nation keine Existenz zubilligt, befürwortet List die individuelle Freiheit und den Unternehmergeist. 172 Die Lehre Smiths hält er unter besonderen Bedingungen für richtig, lediglich glaubt er auf Basis eigener Untersuchungen dessen Dogma relativieren zu sollen.

In seinem Hauptwerk, „Das nationale System der politischen Ökonomie“ erschienen 1842, widmet sich List der von Smith behandelten Problematik des Reichtums der Nationen. Die Originalität seiner Untersuchung liegt darin, dass sie sich vollkommen auf historische Argumente stützt und damit zu dem Schluss kommt, dass sich der Wirtschaftsorganismus in den einzelnen Ländern unterschiedlich entwickelt. Um dies zu analysieren, richtet List den Fokus auf den Stand der nationalen Agrikultur, der Manufaktur und des Handels. Im Übrigen lassen sich die nationalen Unterschiede anhand des Zustands der gesellschaftlichen Beziehungen erklären, die List als eine Mischung aus nationalem politischen Stil, Religion, Wissenschaft, Literatur, ethischen Grundvorstellungen, etc. erläutert. 173

Bei seiner geschichtlichen Untersuchung wirft er einen speziellen Blick auf den Außenhandel. Vornehmlich betrachtet wird der Einfluss, den die Continentalsperre Napoleons auf die deutsche Industrie ausübte. Nach einer Periode des freien Handels – während der die Terms of Trade vorteilhaft für die englischen Manufakturen waren, worunter Deutschland sehr zu leiden hatte – führte der Schutz vor englischen Einfuhren dazu, dass auf der rechten Rheinseite eine bedeutendende Industrie aufblühte. Als Frieden zurückkehrte und sich mithin die kontinentalen Märkte wieder der englischen Konkurrenz öffneten, konnte ihr die neu entstandene Industrie nicht standhalten. 174 Folglich lautet Lists Fazit, dass der freie Handel nicht für jeden und immer zu Wohlstand führt; dass die universale Lehre der klassischen Schule nicht überall und für alle Zeiten gilt.

Die Innovationskraft des „nationalen Systems der politischen Ökonomie“ liegt in diesen „Lehren der Geschichte“ wie auch das letzte Kapitel des ersten Buches betitelt ist: Aus der Feststellung existierender Wechselwirkungen zwischen gesellschaftlichen und individuellen Kräften induziert Friedrich List eine Werttheorie. Aus der historischen Beobachtung der Industrie verschiedener Nationen leitet er eine Entwicklungslehre sowie gleichzeitig eine Handelstheorie bzw. -politik ab.

Notes
164.

Gehrig [1950: VI, XXX].

165.

Hildebrand [1848: 46-47]; Tribe [1995: 45-57]. Tribe zeigt weitere Verbindungen von List hin zum amerikanischen Protektionismus und „Nationalismus“, wie z.B. zu Raymond, auf.

166.

1819 engagierte sich List für die Vereinigung der kleinen deutschen Staaten – seine Initiative wurde von den Autoritäten als Versuch betrachtet, eine kommerzielle Lobby zu gründen – und kritisierte immer heftiger die Passivität des Bundestages sowie die drückende Last der Bürokratie. 1822 wurde List zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. (Tribe [1995: 42-43]; Gehrig [1950: VII-X]).

167.

Schmoller [1888: 103].

168.

Knies [1883: 281].

169.

List [1842: 267].

170.

Ebd. 204.

171.

Ebd. XXX.

172.

Hildebrand [1848: 47-49] Zitat S. XXX.

173.

List [1842: 77-203]. In den neun ersten Kapiteln analysiert List die Charakteristika der bedeutendsten Wirtschaftsnationen der Vergangenheit und der Gegenwart, woraus er die „Lehren der Geschichte“ zieht (10. Kap.).

174.

Ebd. 168-174.