1.1.4. Organismus und Historismus als Fundamente der deutschen Wirtschaftswissenschaft

Die bisher dargestellten Lehren sind Pionierwerke der deutschen Wirtschaftswissenschaft. Sie entspringen einer Periode, in der die Nationalökonomie als eigenständige Wissenschaft überhaupt erst entsteht. In dieser Phase wird ihr Aufgabenfeld präzisiert sowie ihre Methode definiert. Die geschilderten Lehren weisen demnach eine Richtung für die künftige deutsche Wirtschaftswissenschaft. Ihre Eigenart liegt darin, dass sie wie der Kameralismus entweder Abstand zur dominierenden Wirtschaftslehre ihrer Zeit nimmt oder sich wie Müller und List zum Richter der Aufklärungsökonomie erhebt.

Mit Smith in England und Quesnay in Frankreich entsteht die politische Ökonomie als Fortsetzung der Aufklärungsphilosophie aus dem Willen heraus, das wirtschaftliche Leben dank strenger Rationalität zu verbessern. Der Reichtum der Nationen soll nicht mehr Untertan willkürlicher Staatsentscheidungen sein. Klassiker und Physiokraten suchen daher nach Gesetzmäßigkeiten des Wirtschaftsablaufs. Mit den Kameralwissenschaften entsteht die deutsche politische Ökonomie auch aus der Absicht heraus, die staatlichen Maßnahmen durch ein wissenschaftliches Fundament zu untermauern. Da sich aber der Untersuchungsumfang der deutschen politischen Ökonomie aus dem breiten Kompetenzbereich der Kammerbeamten ableitet und da die deutsche Romantik die Naturphilosophie der Aufklärung zurückweist, resultiert eine andere Betrachtungsweise des Wirtschaftslebens.

Die deutschen Lehren fassen die Wirtschaft vornehmlich als Organismus auf. Sie gehorcht nicht den Gesetzen der Natur, sondern den Prinzipien der Teilorgane, aus denen sich das Wirtschaftsleben zusammensetzt. Ganz gleich ob diese Organe Gegensätze wie bei Müller oder Produktivkräfte wie bei List heißen, hängt das reibungslose Funktionieren der Wirtschaft von der effizienten Vermittlung zwischen ihnen ab. So unterliegt das wirtschaftliche Gleichgewicht der Harmonie der Wirtschaftsorgane. Dem Staat kommt eine bedeutende Funktion zu. Er soll durch aktive Vermittlungspolitik für den Einklang der Teilorgane sorgen.

Die organische Betrachtungsweise führt des Weiteren dazu, die Wirtschaft selbst wiederum als Teilorgan der ganzen Gesellschaft anzusehen. Erstens impliziert dies, dass die Grenze der Wirtschaftslehre und die des Gemeinwesens bzw. der nationalen Einheit übereinstimmen: Noch Mitte des neunzehnten Jahrhunderts erscheint List die grenzenlose Weltwirtschaft, deren Funktionieren Smith beschreibt, als eine Fiktion und die universale Wirtschaftslehre deshalb als eine Utopie. Wenn zweitens Wirtschaftsgesetze nicht naturbedingt sind, hängen sie von der Konstellation der anderen Gesellschaftsorgane ab: Recht, Politik, Kunst, Sprache, etc.. Die Gesetzmäßigkeiten des Wirtschaftsablaufs sind eine Funktion rechtlicher, politischer sowie moralischer Prinzipien. Diese Gegebenheiten haben die Kammerbeamten bei ihren Entscheidungen zu berücksichtigen. Dafür entwickeln sie die politische Ökonomie als umfassende Staatswissenschaft, Betriebswirtschaftslehre und technische Bildung. Hier wird die Wirtschaft nicht einseitig, d.h. nur von der materiellen Seite her, wie bei den Klassikern betrachtet, sondern von zwei Seiten gesehen: Das Wirtschaftsleben ist stets sowohl in eine materielle als auch in eine ethische Dimension eingebettet. Dies spiegeln die Idee der Glückseligkeit bei den Kameralisten und das geistige Kapital als Ursache des nationalen Reichtums bei List wider.

Schließlich drängt die organische Anschauungsweise zu einem analytischen Untersuchungsverfahren der Wirtschaft hin. Obgleich die Romantik der streng rationalen Methode der Klassiker noch keinen befriedigenden Ansatz entgegensetzen kann, lenkt er die politische Ökonomie in eine andere Richtung. In dieser Hinsicht bleibt die besondere Leistung Müllers, gemutmaßt zu haben, dass es eine Alternative zum Rationalismus geben könnte, indem man das Wirtschaftsleben je nach Auswahl der betrachteten Teilorgane subjektiv und künstlerisch darstellt. Die geschichtlichen Untersuchungen Lists bringen diese Idee voran. Der Verdienst seiner Methode besteht darin, den Akzent auf die dynamischen Transformationen des Wirtschaftslebens gesetzt und damit induziert zu haben, dass theoretisch gewonnene Einsichten – wie die Lehre des freien Handels – nur relativen Erkenntniswert besitzen.