1.2.2. Positionierung gegenüber dem neuen Antlitz der Aufklärungsökonomik: Die Kritik an Ricardo

Nachdem Knies die Kompatibilität der Lehre Smiths mit einer historischen Methode nicht ausschloss, wendet sich die alte historische Schule der Kritik an den Schülern des schottischen Ökonomen zu. Den Ricardo’schen Ansatz bemängeln die drei Vertreter der alten historischen Schule grundsätzlich. Von Smith unterscheide sich Ricardo durch seine abstrakte und fast mathematische Ausdrucksweise, die die ursprüngliche Lehre des Mentors nachteilig verändert habe. 227

Hildebrand greift Ricardos geschlossenes Schema der Einkommensbildung und -verteilung an. Ähnlich wie bei dem Engländer definiert Roscher die Herausbildung des Lohnniveaus in Abhängigkeit von den Bedürfnissen des Arbeitnehmers sowie einem Überschuss zum Erhalt der Familie. Anders als bei Ricardo variiert der Arbeitslohn aber nicht nur mit dem Preis der Lebenshaltungsgüter und dem Verhältnis des Arbeitsangebots zur -nachfrage. Vielmehr beeinflussen auch die standesmäßigen sowie die nationalen und geographischen Verschiedenheiten der Arbeiterbedürfnisse die Lohnbildung. Aus diesen Gründen sieht Roscher die Möglichkeit eines dauerhaften Lohndifferentials zwischen den verschiedenen Industriezweigen. 228 Die Kapitalbildung betreffend nähert sich die alte historische Schule ebenfalls den Thesen von Smith und Ricardo an. So erklärt Roscher u.a., dass es eine Tendenz zur sektoriellen Angleichung der Profitrate gebe. Außerdem drücke die Entwicklung der Gesellschaft über die Rente und den Lohn auf den Kapitalzins: „Je größer das nationale Bedürfnis wird, desto mehr sieht man sich genötigt, auf unfruchtbarem Boden und sonst unergiebigen Anlageplätzen Kapital zu verwenden. […] Jeder Umstand, der bei gleichbleibender Grundrente den Lohn erhöhet, erniedrigt den Zins, und umgekehrt.“ Trotzdem stellt für die alte historische Schule die Einkommensverteilung keine in sich geschlossene Allokationsfunktion dar. Das Sinken des Kapitalzinses tritt zuerst in den geographischen Gebieten auf, wo das Kapitalangebot am reichlichsten ist, d.h. in den Städten. Eine generelle Tendenz nach unten kann durch Kapitalverlagerung erheblich gebremst werden. 229

Die auf der marginalen Produktivität des Bodens basierende Rententheorie von Ricardo stößt bei der alten historischen Schule noch auf mehr Widerspruch. Erstens stellt Roscher fest, die Rente komme nicht automatisch mit der Entstehung des Privateigentums zum Vorschein. Er belegt, dass ältere Ausprägungen einer Privateigentumsgesellschaft ganz ohne Rente existierten. Diesen historischen Beweis hebt Knies hervor. Für ihn ist das Gesetz Ricardos, demzufolge die schlechteste Bodenklasse niemals eine Rente abwerfen kann, zu „korrigieren“, da es angesichts direkt widersprechender Lebenstatsachen nicht haltbar sei. Damit möchte Knies die von Ricardo an der Rententheorie Smiths vorgenommenen Änderungen rückgängig machen, um wieder zu einer offenen Konzeption der Rentenbildung zu gelangen. 230

Die Standpunkte der alten historischen Schule zu den drei Komponenten der Warenpreise führen schließlich zu einer Ablehnung des Ricardo'schen Einkommensverteilungsschemas. Laut Roscher können alle drei Einkommenssäulen in einem Land gleichzeitig hoch sein. Es existiere bei wachsendem Volkseinkommen keine Tendenz zur fallenden Profitrate und steigenden Rente. Roscher greift ferner den politischen Charakter der Einkommensverteilung auf. Er bezieht sich zurück auf die organische Denkweise und erklärt, dass die dauerhafte Blüte einer Volkswirtschaft durch eine ausgeglichene Einkommensverteilung bedingt sei. 231 Hier rücke die politische Funktion des Staates in den Vordergrund. Im Gegensatz zum geschlossenen Mechanismus Ricardos hält die alte historische Schule erstens die Offenheit sowie zweitens die Normativität der Einkommensverteilung für zutreffend. Mit dem ersten Aspekt knüpft sie an die schottische Lehre und mit dem zweiten Punkt an die deutsche Tradition an. Dies markiert eine Wende in der deutschen Wirtschaftslehre. Während zwei Hauptvorgänger der historischen Schule ihre Kritik ausschließlich gegen Smith richteten, soll sich die alte historische Schule nun zum Teil auf Smith stützen, um die neue, ihrer Meinung nach noch ungeheuerlichere Aufklärungsökonomik abzulehnen.

Notes
227.

Hildebrand [1848: 19].

228.

Roscher [1843: 17-19].

229.

Ebd. 19-22.

230.

Knies [1883: 499-500].

231.

Roscher [1843: 22-23].