2.1.1. Wissenschaftliche Stellung Schmollers

Das wissenschaftliche Programm Schmollers nimmt in den folgenden Schriften Gestalt an: „Zur Methodologie der Staats- und Sozialwissenschaften“ erschienen 1883, „Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode“ von 1893 sowie in seinem Hauptwerk „Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre“, dessen zwei Bände er 1900 und 1904 herausgab.

In diesen Schriften wendet sich Schmoller der klassischen sowie sozialistischen Nationalökonomie noch einmal kritisch zu. Damit fundiert er seine Zugehörigkeit zur deutschen historischen Schule. Allerdings gibt seine Kritik die Leidenschaftlichkeit eines Müllers oder Lists definitiv auf und erreicht einen Wissenschaftsgrad, den die alte historische Schule ihrerseits noch vermissen ließ.

Schmoller würdigt Smith, da es dem schottischen Ökonomen gelungen sei, durch die Einführung des Sympathy-Gefühls das Verständnis wirtschaftlichen Handelns von der physiokratischen Mechanik zu lösen. Schmoller kritisiert an Smith aber, dass der Vater der klassischen Ökonomie den natürlichen Egoismus dem historisch gewachsenen Sympathy-Gefühl in seiner Theorie überordnet und ein auf Basis dieses Triebes funktionierendes Wirtschaftssystem für das effizienteste hält. Auf Schmollers Ablehnung stößt Smith, indem er den Tauschwert einer Ware nach der in ihr enthaltenen Arbeit messen will. Die Neuformulierung von Smith durch David Ricardo beurteilt Schmoller teils als logischer, überwiegend jedoch als schief oder falsch, da sie nicht mehr auf objektiven Grundlagen, sondern auf den Erfahrungen des Geschäftsmannes Ricardo beruhe. Die klassische Nationalökonomie basiere auf einer unvollkommenen Analyse des Menschen, sie verkenne die historische Ursache des Reichtums der Nationen, indem sie ihn bloß auf den Erwerbstrieb anstatt ebenso auf gesellschaftliche Institutionen zurückführe. Die Klassik glaube kindlich an die Deckungsgleichheit der Gesellschafts- und Individualinteressen und wolle die Strukturen einer Volkswirtschaft durch den Preismechanismus und Wertanalysen erklären, wohingegen tiefere psychologische sowie historische Untersuchungen unternommen werden müssten. „Es fehlte der ganzen [klassischen] Schule die breite Kenntnis anderer Zeiten und Länder, die historische Auffassung des sozialen und volkswirtschaftlichen Entwicklungsprozesses.“ Mit einem Wort entspreche die klassische Nationalökonomie dem „einseitigen Zeitideal“ des Naturrechts. 272

Radikaler als einst Hildebrand oder Knies beurteilt Schmoller die sozialistische Literatur seiner Zeit: „Viele der neuen sozialistischen Apostel waren Autodidakten, Geschäftsleute, Männer ohne eigentliche wissenschaftliche Bildung, Phantasten und wirre Ideologen, die urteilslos die Bildungselemente der Zeit in sich aufnahmen.“ 273 Laut Schmoller gründet die Kritik des Kapitalismus durch moderne Sozialisten (Rodbertus, Lassalle und Marx) – gemäß welcher sich die aus dem Produktionsprozess natürlich ergebende Einkommensverteilung immer zum Vorteil der Kapitalisten und zum Nachteil der Arbeiter entwickelt – wissenschaftlich auf „drei schablonenhaften abstrakten Formeln.“ Erstens sei es ein rechtsphilosophischer Irrtum wie Rodbertus zu meinen, dass die Institution des Privateigentums an dieser Entwicklung Schuld hätte. Zweitens liege Lassalle politisch falsch, wenn er behaupte, das Lohngesetz sei daran schuld. Drittens mache Marx einen technisch-wirtschaftlichen Fehler, wenn er erkläre, dass die aus dem Prozess kapitalistischer Einkommensverteilung resultierende Kapitalansammlung zur Enteignung der schrumpfenden Kapitalistenklasse durch das wachsende arbeitende Volk führe. Die modernen Sozialisten irrten sich, weil sie ignorierten, dass die Einkommensverteilung in jedem Wirtschaftssystem ein Produkt der historisch gewachsenen Gesellschaftsinstitutionen sei.

Auf die Vorläufer der deutschen historischen Schule geht Schmoller allerdings nur flüchtig ein. Er begrüßt Adam Müllers Reaktion auf die naturrechtliche Wirtschaftstheorie des achtzehnten Jahrhunderts sowie auf den naiven Optimismus des klassischen Liberalismus. Außerdem erachtet er das Werk Friedrich Lists als „Wendepunkt.“ Nachdem dieser passiert wurde, habe die geschichtliche Methode ihren Platz innerhalb der Nationalökonomie gefunden. Schmoller bedauert jedoch, dass List lediglich ein „geistvoller Agitator“ geblieben sei. „Hätte er mit seiner genialen Begabung die nötige Nüchternheit und die Ruhe eines Gelehrtenlebens verbunden, so wäre er der Überwinder der smithschen Schule geworden.“ 274 An Kommentaren zur alten historischen Schule zeigt sich Schmoller noch sparsamer. Über die Arbeit Hildebrands schreibt er, sie hätte „anregend gewirkt.“ Bei Knies lobt er dessen methodische Sorgfalt, aber beide Wissenschaftler überrage Roscher an Einfluss. So bezeichnet Schmoller den Beitrag Roschers zur Entwicklung der historischen Schule als „epochemachend“, obwohl man ihm vorwerfen könne, „mehr polyhistorisch gesammelt als das einzelne nach strengen historischen Methoden untersucht“ zu haben, sowie dass er „zuviel deterministische Gesetze suchte.“ 275

Mit diesen Stellungnahmen liegen zwei Hauptkritikpunkte von Schmoller an der alten historischen Schule auf der Hand. Einerseits habe sie empirisch nicht genau genug gearbeitet und damit zu schnell theoretische Schlüsse gezogen. Andererseits habe die alte historische Schule mit der Vertiefung ihrer Methode und bei ihrer Faktensammlung die wirtschaftspolitische Debatte aus den Augen verloren, die bei List oder Müller als Ausgangsbasis gedient hatte. Für Schmoller war dies ein notwendiger Umweg, damit die historische Forschung an Boden gewinnen konnte: „Unser Wissen ist außerordentlich gewachsen, in die Tiefe und in die Breite; wir haben Methode und Sicherheit in unsere Forschung gebracht. [...] Wir sind uns den Grenzen unseres gesicherten Wissens, der Kompliziertheit der Erscheinungen, der Schwierigkeiten der Fragen bewußt; wir stehen noch vielfach in der Vorbereitung und Materialsammlung; aber trotzdem stehen wir mit anderer Klarheit als vor hundert und vor fünfzig Jahren der Gegenwart und der Zukunft gegenüber, gerade weil wir so viel Genaueres über die Vergangenheit heute wissen.“ Da sich die gesellschaftliche Lage zugespitzt und die Einkommensverteilung sich noch mehr zu Lasten der Arbeiter entwickelt habe, möchte Schmoller jedoch die Volkswirtschaftslehre im Allgemeinen sowie die historische Schule im Besonderen in eine praktisch-politische Richtung lenken. 276

Mit Schmollers Positionierung zur Nationalökonomie werden folgende drei Charakteristika seiner jungen historischen Schule deutlich: [1] Der Fokus richtet sich auf die empirische Arbeit, was der historischen Schule endlich ein Forschungsprogramm gibt: Es geht darum, im geschichtlichen Zeitablauf realisierte Wirtschaftssysteme empirisch zu erforschen und miteinander zu vergleichen. [2] Methodisch wird der psychologische Faktor in die Analyse wirtschaftlicher Fakten und Kausalzusammenhänge eingeführt. [3] Dies geschieht in der primären Absicht, Aufschluss über die optimale Gestaltung von Institutionen bzw. die gerechteste Einkommensverteilung zu erlangen. Somit antwortet das Programm Schmollers auf die von der älteren historischen Schule offen gelassene Frage, ob man ausschließlich positiv oder auch normativ arbeiten sollte. Darüber hinaus ist interessant zu bemerken, dass sich die jüngere historische Schule Schmollers in puncto Gestaltung von Institutionen an einer Synthese versucht, die zwischen klassischem Liberalismus und sozialistischer Abschaffung des Privateigentums liegt: Mit dem Programm von Schmoller nimmt die wissenschaftliche Idee eines „dritten Weges“ in Deutschland Gestalt an.

Notes
272.

Schmoller [1900: 89-94] Zitat S. 94.

273.

Ebd. 95.

274.

Ebd. 118.

275.

Ebd. 114-119.

276.

Ebd. 123-124 Zitat S. 123.