2.1.3. Methode: Kontinuität zwischen Empirie und Theorie

Die Anforderungen Schmollers auf eine strengere Wissenschaftlichkeit der Nationalökonomie beziehen sich hauptsächlich auf die angewandte Methode: „Die Hauptaufgaben strengerer Wissenschaft sind so 1. richtig beobachten, 2. gut definieren und klassifizieren, 3. typische Formen finden und kausal erklären.“ 294 Was den methodologischen Standpunkt betrifft, ist Schmoller von demselben Tatsacheninstinkt inspiriert wie Hildebrand. Im Unterschied zu seinem Vorgänger sieht Schmoller allerdings nach dem quantitativen Moment des Sammelns von Verhältniszahlen sowie nach dem qualitativen Moment der Definition von Erfahrungsbegriffen nun offenbar stärker die Notwendigkeit, Kausalerklärungen zu geben.

Als erste Etappe der Theoriebildung geht für Schmoller das Beobachten Hand in Hand mit dem Beschreiben. Eine Erscheinung gilt als beobachtet, wenn sich „oftmals von demselben oder von verschiedenen Beobachtern wiederholt immer dasselbe Resultat ergibt, ohne Einflüsse und Täuschung.“ Ziel der Beobachtung sei es, einen Kenntnisstand objektiver Gültigkeit, erschöpfender Genauigkeit und extensiver Vollständigkeit über eine Erscheinung zu erreichen. Der Schritt des Beschreibens bestehe darin, durch sowohl quantitative als auch qualitative Angaben „Einheit in das Chaos zerstreuter Einzelheiten zu bringen.“ Dabei ist Schmoller bewusst, dass „die Beobachtung jedoch aber schon ein geordnetes System von Begriffen und Kenntnisse der Formen und Kausalzusammenhänge voraussetzt.“ Mit anderen Worten wird die Induktion als Schlussfolgerung vom Einzelnen auf das Zugrundeliegende für die Beobachtung und Beschreibung gebraucht. Letztere seien aber noch keine Induktion, weil man in diesem Stadium noch nicht zur Formulierung von Gesetzmäßigkeiten gelange.

Im Grunde genommen verfügt Schmoller über so gut wie kein Konzept, um die Methode des Beobachtens und Beschreibens darzustellen. Dies kommt noch mehr zum Ausdruck, da er erklärt, dass man zur Beobachtung oft die „vorbereitende Tätigkeit der Nachbarwissenschaften“ (Psychologie, Geschichte, Soziologie, etc.) nutzen kann. Also benötigt die Nationalökonomie Konzepte anderer Disziplinen, um sich zu konstituieren. Hier darf der Ökonom sicherlich fragen, auf welcher Basis die anderen Wissenschaften ihre Konzepte definieren konnten. Anhand dessen wird deutlich, dass Schmoller eigentlich auf das schon seit Kant bekannte Problem des synthetischen Urteils a priori stößt: Wie kann man aufgrund sensiblen Beobachtung eine Wahrheit unmittelbar einsichtig anerkennen, ohne zuvor theoretische bzw. abstrakte Begriffe definiert zu haben, und wie lassen sich Wahrheitsbegriffe klarmachen, ohne sie vorher empirisch zu fundieren? 295 Mit dieser Frage, die sich noch als Kernproblem für die ganze historische Methode der Nationalökonomie erweisen wird, geht Schmoller letztlich sehr pragmatisch um: „Auf jeden Theil des Stoffes sind die Mittel zu verwenden, die uns am weitesten führen.“ 296

Die Begriffsbildung dient dann der Beschreibung, indem sie Material zum Fixieren der Beobachtung liefert. Sie ist nach Schmollers Ansicht die Fortsetzung der Sprachbildung auf wissenschaftlicher Ebene. Kurz gesagt soll die Begriffsbildung zur Definition führen. Jedoch erkennt Schmoller, dass es keinen endgültigen sondern nur vorläufigen Definitionen geben kann. Je öfter man die Etappe des Beobachtens wiederhole, umso präziser werde die Definition, umso feiner und nuancierter das Begriffssystem. Je vollständiger das Begriffssystem werde, desto genauer könne die Beobachtung erfolgen, was erneut Fortschritte innerhalb des Begriffssystems erlaube. Der Wissensstand wachse als kumulativer Prozess, dessen Motor ein iterativer Informationsaustausch zwischen praktischer Beobachtung und abstrakter Definition sei.

Diese Schilderung der Begriffsbildung kommt sicherlich dem tatsächlichen wissenschaftlichen Fortschritt äußerst nahe. Allerdings muss Schmoller mithin erkennen, dass die Wissensbasis, die dem Nationalökonomen zur Verfügung steht, leider nur sehr dünn ist. Zu fragen gilt es auch, ob im Zuge jenes Prozesses überhaupt eine absolute Wahrheit gefunden werden kann. Denn der mit einem bestimmten Wissensstand gebildete Begriff mag sich bei verbessertem Wissensstand als falsch erweisen. Wenn dieser Begriff tatsächlich falsch war, dürfte der dank ihm gewonnene neue Wissensstand aber ebenfalls falsch sein. Daher ließe sich letztlich nicht mehr beurteilen, ob der für falsch gehaltene Begriff wirklich falsch ist oder nur falsch erscheint, weil sich der Wissensstand falsch entwickelt hat. Außerdem dürfte jener Vorgang der Begriffsbildung auch für die anderen Wissenschaften gelten, die der Nationalökonomie laut Schmoller helfend zur Seite stehen. Dies würde jedoch bedeuten, dass der Nationalökonom, wenn er sich Begriffen dieser Wissenschaften bedient, hinterfragen sollte, ob sie richtig oder veraltet sind oder bereits für ungültig erklärt wurden. Wo gibt es dann eine solide Basis, die dem Ökonomen als Ausgangspunkt zur Verfügung steht, um seine eigene Wissenschaft zu konstituieren? Hierzu bleibt Schmoller eine befriedigende Antwort schuldig.

Die Begriffsbildung hat nach Schmollers Erachten keinen eigenständigen Zweck. Wichtigste Aufgabe der Nationalökonomie sei es, Theorien zu entwickeln, also „die Erfassung der typischen Vorgänge, der Wiederholung gleicher Einzelerscheinungen und Reihen von Erscheinungen gleicher oder ähnlicher Formen“ vorzunehmen oder sämtliche Ursachen einer Erscheinung festzustellen. Dazu trage die Etappe der Begriffsbildung bei. Je genauer und umfangreicher das Begriffssystem sei, desto exakter könnten Kausalzusammenhänge erfasst werden, desto präziser würden die Voraussagen des Ökonomen. 297

Da Schmoller in der Tat nach einer strengeren Wissenschaft strebt, gibt er sich allerdings nicht mit einfachen „empirischen Gesetzen“ zufrieden, in denen nur typisch sich wiederholende Erscheinungsreihen erfasst werden. Analogien im Sinne von Knies sind ihm nicht präzise genug. Obwohl er sich der Schwierigkeiten bewusst ist, möchte Schmoller „wirkliche Gesetze“ entdecken, i.e. „Kausalverbindungen, deren konstante Wirkungsweise wir nicht bloß kennen, sondern auch quantitativ bestimmt haben.“ Leider muss er feststellen, dass solche Beziehungen in der Volkswirtschaft selten sind, weil wirtschaftliche Erscheinungen auf vielen komplexen Ursachen beruhen; nämlich der Natur, psychischen Elementen erster Ordnung (individuelle Triebe) und psychischen Elementen zweiter Ordnung (Institutionen). Wie im Falle des Begriffssystems wird es dann auch kein „letztes einheitliches Gesetz volkswirtschaftlicher Kräftebestätigung“ geben können. Für Schmoller kann ein Lohngesetz à la Ricardo nicht existieren. Die Summe volkswirtschaftlicher Ursachen während eines Zeitabschnittes und innerhalb eines Volkes ergebe ein individuelles Bild, dem die wirtschaftlichen Erscheinungen folgten. Wie das Begriffssystem entwickele sich auch der Stand nationalökonomischer Gesetze: Sie würden deduktiv gewonnen, aber induktiv getestet, bis sie eine gewisse Wahrheit beinhalteten. Die Methoden der Deduktion und Induktion wendet Schmoller in komplementärer Weise an. „Stimmt das Ergebnis unserer Deduktion mit der Wirklichkeit nicht überein, dann schreiten wir zur Induktion, um neue Wahrheiten zu suchen. Aber die so gefundene neue Wahrheit verwerten wir sofort wieder deduktiv.“ 298

Aufgrund dieses von Schmoller dargestellten Reifungsprozesses der Wirtschaftswissenschaft ändert sich die Aufgabe der Nationalökonomie. „Je nach dem fortschreitenden Stande der Wissenschaft tritt dann bald das eine, bald das andere mehr in den Vordergrund. Bald ist das Zurückgreifen auf die Erfahrung, bald die rationale Vermeisterung der Erfahrung durch Begriffe, Reihenbildung, Kausalerklärung und Hypothesen das wichtigste Geschäft.“ 299 Daher ist die Nationalökonomie auch abwechselnd deduktiv und induktiv. Entstehende Wissenschaften sind Schmoller zufolge überwiegend induktiv, da Material gesammelt werden müsse. Anschließend komme eine Zeit, in der Kausalzusammenhänge deduktiv erarbeitet sein könnten, jedoch noch getestet werden müssten. Induktion und Deduktion seien dann noch komplementär zueinander. Allein die vollkommene Wissenschaft könne rein deduktiv arbeiten. Denn nur auf Grundlage einer präzisen vollständigen Deskription des individuellen Erscheinungsbildes ließe sich abstrahieren und mittels induktiver Methode eine Theorie gewinnen: „Die deskriptive Wissenschaft liefert die Vorarbeiten für die allgemeine Theorie.“ 300

Zu seiner Zeit meint Schmoller, der rein deduktiv arbeitende Nationalökonom müsse sich noch gedulden. „Man wird daneben zugeben, daß zahlreiche neue Elemente und Theile unseres Wissens noch in Gärung sich befinden, daß es sich noch darum handelt, aus der Summe neuer Einzelerkenntnisse die allgemeinen Resultate zu ziehen, eine neue einheitliche Wissenschaft herzustellen. Aber wir können behaupten, daß wir doch im ganzen diesem wissenschaftlichen Ziele uns nähern; wir können hoffen, daß die mächtig fortschreitende, gesicherte empirische Einzelerkenntnis mehr und mehr von Männern zu einem Ganzen verbunden werde, welche zugleich durch universale Bildung, durch Charakter und sittlichen Adel sich auszeichnen; geschieht das, so werden auch die heutigen großen Fortschritte der Volkswirtschaftslehre gute praktisch-politische Früchte tragen.“ 301 Den Anhängern seiner Schule gibt Schmoller daher als zentrale Aufgabe, das Ensemble von Ursachen zu erforschen, das ein zeitlich und geographisch abgegrenztes Wirtschaftssystem bildet. So zieht er es vor, sich auf Monographien, Spezialuntersuchungen über einzelne Epochen, Völker, etc. zu konzentrieren, anstatt eine allgemeine Theorie zu entwickeln, um sie den Klassikern und Sozialisten entgegenzustellen. Hauptziel seiner jungen historischen Schule soll es sein, „monographische deutsche Wirtschaftsgeschichte“ zu schreiben. 302

Notes
294.

Ebd. 101.

295.

Cassel [1968: 23-27].

296.

Schmoller [1900: 102-104], die Zitate sind auf diesen drei Seiten nachzulesen.

297.

Ebd. 106-110.

298.

Ebd. 110-113.

299.

Ebd. 101.

300.

Schmoller [1883: 977].

301.

Schmoller [1900: 124].

302.

Ebd. 120.