2.1.5. Die Kritik von Menger

Der Vorgänger der künftigen österreichischen Schule tat 1883 mit Veröffentlichung seiner „Untersuchungen über die Methode der Sozialwissenschaften und der politischen Oekonomie insbesondere“ den ersten Schritt zu einer Debatte mit Schmoller, die sich zu einer der heftigsten Auseinandersetzungen entwickelte, von denen die Nationalökonomie jemals erschüttert wurde. Anhand dieser Untersuchungen gelangte Menger zu dem Ergebnis, dass die historische Methode generell und das Programm Schmollers im Besonderen die Nationalökonomie auf eine falsche Bahn lenkten. Mit bloßer Kritik gab er sich allerdings nicht zufrieden, sondern schlug eine alternative Methode zur Analyse des Wirtschaftsprozesses sowie der Wirtschaftsinstitutionen vor. Schmoller antwortete darauf in einer heute noch bekannten Rezension der „Untersuchungen“, wo er die theoretischen Grundlagen seiner Arbeit verteidigte und auf die Philosophie von Dilthey zurückgriff. 321 Später artete die Kontroverse zwischen den beiden Ökonomen in eine etwas nutzlose Polemik aus, da Menger sich der Kritik der historischen Methode nochmals in einem kleinen, als erfundene Briefwechselsammlung veröffentlichten Buch widmete, in dem er seine Angriffe zuspitzte: „Was ich der historischen Schule deutscher Nationalökonomen zum Vorwurf [mache], ist nicht, daß sie die Geschichte der Volkswirtschaft als Hilfswissenschaft der politischen Ökonomie betreibt, sondern, daß ein Theil ihrer Anhänger über historischen Studien die politische Ökonomie selbst aus dem Auge verloren hat.“ 322 Schmoller schickte die „Irrthümer des Historismus in der deutschen Nationalökonomie“ dem Verfasser ungelesen zurück. Anstatt einer wie ansonsten üblichen Rezension erschien in Schmollers Jahrbuch ein offener Brief an Carl Menger. Folgendes Zitat gibt eine Kostprobe des Tons, den der erste Methodenstreit annahm: „Geehrter Herr! Ich habe unter Kreuzband Ihre Schrift erhalten [...]. Sie trägt den Druckvermek „vom Verfasser“, so dass ich also die Zusendung Ihnen persönlich zu danken habe. [...] So sehr ich nun Ihren guten Willen, sich mit mir zu beschäftigen und mich aufzuklären, anerkenne, so sehr glaube ich doch meinen Grundsätzen über derartige literarische Waffengänge treu bleiben zu sollen. Ich muss sie Ihnen also verrathen, empfehle sie Ihnen auch zur Nachahmung; sie ersparen einem viel Zeit und Aerger. Ich werfe alle solche persönlichen Angriffe, [...] ungelesen in den Ofen oder in den Papierkorb.[...] Ich will Ihnen gegenüber nicht so unhöflich sein, ein so schön ausgestattetes Büchlein von Ihrer Hand zu vernichten; [...] Für weitere Angriffe werde ich Ihnen übrigens immer dankbar bleiben. Denn, „viel Feind, viel Ehr.“ Genehmigen Sie die Versicherung meiner.“ 323

Den wissenschaftlichen Grund für eine so heftige Debatte lieferte die methodologische Stellung Mengers. Sie forderte das Gedankengebäude der historischen Nationalökonomie stark heraus. So tat Menger volkswirtschaftliche Geschichte und Statistik als bloße Hilfsmittel der politischen Ökonomie ab und schloss sie damit als methodologische Basis von Theorien aus. Mit solchen Werkzeugen, die die historische Schule seit Roscher zu ihren Hauptuntersuchungsmitteln erklärt hatte, hielt Menger es für möglich, ein „individuelles“ Bild der Phänomene darzustellen, aber sie trügen nicht zur theoretischen Forschung bzw. zum Verständnis „genereller“, wiederkehrender Erscheinungsformen bei. 324

Als wesentlichen Punkt seiner „Untersuchungen über die Methode der Sozialwissenschaften und der politischen Oekonomie insbesondere“ grenzt der Österreicher zwei Richtungen theoretischer Forschung voneinander ab. 325 Eine „realistisch-empirische Richtung“ hat „die Erscheinungsformen der realen Phänomene der Volkswirtschaft „in ihrer vollen empirischen Wirklichkeit” und die zu beobachtenden Regelmäßigkeiten in der Aufeinanderfolge und der Coexistenz der volkswirtschaftlichen Erscheinungen festzustellen.“ Hingegen macht sich eine „exacte Richtung“ der Theorie zur Aufgabe, „die realen Erscheinungen der Volkswirtschaft auf ihre einfachsten streng typischen Elemente zurückzuführen, und uns, auf der Grundlage des Isolierungsverfahrens, die exacten Gesetze darzulegen, nach welchen sich compliciertere Erscheinungen der Volkswirtschaft aus den obigen Elementen entwickeln [...].“ 326 Die eine Richtung formuliere „empirische Gesetze“, deren Funktion im Erkennen faktischer Regelmäßigkeiten bestünde; die andere suche nach strengen, „exakten Gesetzten“ der Aufeinanderfolge von Phänomenen. 327 Die empirischen Gesetze seien also aus der einfachen Schilderung eines Realen induziert und würden ausschließlich für diese Einzelfälle gelten, wohingegen sich die exakten Gesetze durch rationale Reduzierung der Wirklichkeit auf ihre allgemeingültigen Elemente deduzieren ließen. Dieser Abgrenzung Mengers folgt eine deduktive Beweisführung, die das methodologische Konstrukt Schmollers ernsthaft in Frage stellt:

Erstens unterscheiden sich empirische und exakte Gesetze bezüglich ihrer Gewinnungsmethode sowie des Anwendungsbereichs der Erkenntnisse. Menger kommt zu dem Schluss, dass beide Arten von Gesetzen auf keinen Fall kongruent seien. Im Gegensatz zu Roscher meint er, es ergebe einen methodischen Widersinn, die exakten Gesetze mit den empirischen zu vergleichen. 328 Weder könne man Erstere aus der reinen Beobachtung induzieren, noch Letztere mittels Deduktion gewinnen. Letzten Endes seien beide Verfahren antinomisch. Angesichts dessen könne eine deskriptive Wissenschaft nicht den Unterbau für eine allgemeine Theorie bilden, so dass Schmollers These vom Scharnier zwischen Induktion und Deduktion gesprengt werde. Eine historische Wissenschaft bleibe historisch und könne aufgrund dieser Inkompatibilität nicht theoretisch werden. 329 Monographische Untersuchungen, die Schmoller zum Ausgangspunkt der Forschung gemacht hatte, eigneten sich lediglich dazu, das individuelle Bild eines Phänomens zu untermauern. Zum Abstrahieren reiner Theorie seien sie niemals tauglich.

Zweitens erweise sich das historische Fundieren der sozialwissenschaftlichen Forschung als zwecklos, da die deduktive Methode zu allgemeingültigen Aussagen führe. Bestes Beispiel dafür ist sicherlich Mengers Erklärungsschema für die Entstehung sowie Transformation der sozialen Institutionen. Jedes Sozialgebilde sei zu einem Teil die Folge einer positivistischen Gesetzgebung und zum anderen das unreflektierte Ergebnis geschichtlicher Entwicklung. So bezeichnet Menger Institutionen als „organisch“, wenn sie dem spontanen „Resultat der individuellen Interessen dienenden Bestrebungen“ entsprechen, und als „pragmatisch“ im Fall eines positivistischen Entstehungsprozesses. 330 Pragmatische Institutionen könnten den organischen Prozess sowohl bremsen als auch beschleunigen. Hinsichtlich der Entstehung des Geldes könne aus dieser Theorie abgeleitet werden, dass bestimmte Tauschmittel – seien es Währungen, Banknoten oder irgendwelche Waren – sich immer dann durchsetzten, wenn die Summe der daraus gezogenen individuellen Nutzen größer war als bei anderen Tauschmitteln. Dieses Schema gelte immer und überall.

Bezüglich der Entwicklung des Tauschsystems verfügt Menger damit über größere Erklärungsgewalt als Hildebrands Typologie. Die Theorie Mengers vermag z.B., das Zustandekommen von Tausch und somit einen möglichen tauschlosen Zustand der Wirtschaft zu erklären, ohne die Kontinuität der Argumentation zu verlieren: Tausch als Institution und seine tragenden Organe (Markt, Unternehmungen, Tauschmittel, etc.) entstehen, wenn sie den individuellen Interessen dienen. Bei der historischen Schule indessen bleiben die tauschlose Eigenwirtschaft und die Tauschwirtschaft zwei getrennte Idealtypen. Zwar wurde die Entwicklung der Eigen- zur Tauschwirtschaft von allen hier vorgestellten Vertretern der historischen Schule dargestellt (Bildung von Märkten, Entfaltung des Erwerbstriebs, technischer Fortschritt, etc.) und historisch lokalisiert, aber keine theoretische Begründung dafür gegeben. Sämtliche Bedingungen sowie geschichtlichen Momente für den Übergang von dem einen zum anderen Wirtschaftstyp wurden von der historischen Schule erfasst. Sie bleibt jedoch eine Antwort auf die Frage nach dem Warum schuldig.

Drittens verabschiedet sich Menger von der hermeneutischen Nationalökonomik, welche die historische Schule aufgebaut hatte, da er seine exakte Theorie auf die „einfachsten Elemente“ der Wirklichkeit zurückführt. Das Wirtschaftsleben eines Volkes als ein Ganzes zu betrachten, sei künftig überflüssig. Vielmehr genüge es, als einzigen Faktor zur Erklärung von Institutionen die „den individuellen Interessen dienenden Bestrebungen“ – später von Friedrich von Wieser als Nutzen bezeichnet – heranzuziehen. Die psychologischen Beweggründe der Wirtschaftsagenten sowie Ausprägungen ethischer Normen besser zu ergründen, gehört nicht mehr zur Analyse. Alle das Verhalten des Einzelnen bestimmenden Faktoren – d.h. auch die Anerkennung sozialer Normen sowie persönliche Bestrebungen – seien in der individuellen Nutzenfunktion enthalten. Es grenze sogar an eine Verkennung der Volkswirtschaftslehre, die Wirklichkeit nicht auf elementare Formen zu reduzieren, sondern volkswirtschaftliche Erscheinungen als untrennbare Zusammenhänge zu behandeln. 331

Mit seiner Arbeit teilt Menger die wissenschaftliche Disziplin der Volkswirtschaftslehre demnach in zwei „Clane“ auf, wobei die Zugehörigkeit zu dem einen die Mitgliedschaft in dem anderen unmöglich macht: Realistisch-empirische und exakte Richtung sind vom Untersuchungsfeld her – empirisch oder theoretisch –, die Methode betreffend – induktiv oder deduktiv – sowie bezüglich ihres Ziels – Erkenntnis empirischer Fakten oder allgemeingültiger Theorien – voneinander völlig verschieden bzw. miteinander inkompatibel. Diese Trennung wird tiefe Spuren in der Weiterentwicklung der historischen Schule hinterlassen und die Auseinandersetzung zwischen Menger und Schmoller lange überleben. Fast ein halbes Jahrhundert nach deren im Grunde offen gebliebenen Streit treten Werner Sombart und Arthur Spiethoff in die Debatte ein. Sie errichten damit das nächste, wichtigste Geschoss im Gedankengebäude der historischen Schule. Deswegen sollte man den ersten Methodenstreit nicht nur als destruktiv, sondern auch als konstruktiv für die deutsche Nationalökonomie betrachten. Er bekräftigt das Entwicklungsschema Hegels: These-Antithese-Synthese.

Notes
321.

Schmoller [1883: 975-994].

322.

Menger [1884: 25].

323.

Ein vollständigeres Zitat dieses offenen Briefes von Schmoller an Menger findet sich bei Heino H. Nau in seinem Buch „Eine "Wissenschaft vom Menschen"“. (Nau [1997: 172-173]).

324.

Menger [1883: 15].

325.

Ebd. 22-38.

326.

Ebd. 18-19.

327.

Ebd. 32-38.

328.

Ebd. 59.

329.

Menger [1884: 20-21; 56-57].

330.

Der Institutionsbegriff ist bei Menger und Schmoller identisch.

331.

Menger [1883: 67].