2.2.2. Kritik an Mengers Ökonomik

Schmollers Nachfolger konnten sich mit der Trennung von Theorie und Empirie nicht zufrieden geben. Auch sollte Mengers Methodologie in die Kontroverse eingebracht werden. Von den entsprechenden Überlegungen sind drei Kritiken für einen theoretischen Vergleich von Wirtschaftssystemen besonders erwähnenswert.

Erstens erklärte Sombart die von Menger gewünschte, scharfe Trennlinie zwischen den zwei Methoden als unangebracht: „Es erscheint uns heute selbstverständlich, daß erst die Vereinigung beider Tätigkeiten die Gesamtleistung der wissenschaftlichen Nationalökonomie ausmacht; es ist fast eine Trivialität festzustellen, daß sich „Theorie“ und „Empirie“ wie Form und Inhalt desselben Objektes zueinander verhalten.“ 335 Obgleich Menger die charakterliche Unverträglichkeit beider Methoden aufgezeigt hatte, machte sich der Neohistorismus folgende Grundidee zu eigen: „Eine Nationalökonomie ohne Theorie ist blind, eine solche ohne Empirie ist leer.“ 336 Dank Werner Sombart und Arthur Spiethoff folgte auf die Dominanz der historischen Schule in der deutschen Nationalökonomie kein Absolutismus der exakten Theorie Mengers.

Aus dem Festhalten am Geschichtsbewusstsein entstand eine zweite Kritik am Mengers Dogma. Als Befürworter einer historischen Theorie hatte Arthur Spiethoff einen besonderen Bezug zur Wirklichkeit. Daher unterschied er zwei Richtungen theoretischer Forschung. Hierbei versuchte er, die Grenze der früheren Unterscheidung Mengers zu verschieben. Entweder untersuche eine „reine Theorie“ ein bestimmtes Problem isoliert vom Kontext, in dem es stehe. Oder man versuche, bei der Analyse dem Beobachteten so nahe wie möglich zu bleiben, um die Phänomene zu erklären. Für diesen Fall entlehnte Spiethoff das Konzept einer „anschaulichen Theorie“ von Edgar Salin (1892-1974) . Sowohl reine als auch anschauliche Ansätze seien Theorien in dem Sinne, dass Isolierung und Abstraktion die Fundamente des jeweiligen Verfahrens bildeten. Die reine Theorie bestehe aber in der Vereinfachung von Phänomenen und Anwendung der Deduktion. Ihr Ansatz- und Endpunkt forme ein in sich logisches System geschlossener Beziehungen. Die anschauliche Theorie hingegen isoliere die gesamten wesentlichen Einflussfaktoren mit Hilfe des induktiven Verfahrens. So gelinge es ihr, ein System vollständiger Beziehungen als Ausgangspunkt der Analyse zu schaffen. Erst wenn dieses „Abbild der Wirklichkeit“ gewonnen sei, könne der Wirtschaftswissenschaftler „in einer Umkehrung der Induktion aus den Regelmäßigkeiten als Ursache und Bedingung deduktiv auf die Arteigenheit als Wirkung“ schließen. 337 Mit anderen Worten konnte nach Ansicht von Spiethoff die reine Theorie mit ihrer Deduktion nur nach Anwendung des induktiven Verfahrens einer anschaulichen Theorie folgen. Jene Doppelmethode ergab eine „Verbundtheorie.“ 338 Vor diesem Hintergrund erschien Mengers Konzept für die Untersuchung ausgewählter einzelner Faktoren geeignet, jedoch nicht für das ganze Verständnis eines Wirtschaftssystems.

Drittens verlangte die Analyse von Wirtschaftssystemen danach, einen Einflussfaktor einzubeziehen, der in Mengers Theorie keinen befriedigenden Platz fand. Allerdings wurde dieser kritische Ansatzpunkt hauptsächlich von Sombart und weniger von Spiethoff verfolgt.

Als Menger versuchte, sich mit seinen Ideen in den deutschsprachigen akademischen Kreisen durchzusetzen, musste er das Programm der historischen Schule direkt angreifen. Letztere sah im Schildern der Erscheinungen eine Aufgabe oberster Priorität, die oft für das alleinige Forschungsziel gehalten wurde. 339 Daher stellte also der Österreicher die Aufgabe einer individuellen, deskriptiven Wissenschaft jener einer generellen, theoretischen Wissenschaft gegenüber. Die Erste begnüge sich damit, Erscheinungen zu „erkennen“, die Zweite verlange, sie zu „verstehen.“ So würden der Forschung unterschiedliche Ziele gesetzt, die nur durch verschiedene Methoden zu erfüllen seien. „Wir haben eine Erscheinung erkannt, wenn das geistige Abbild derselben zu unserem Bewußtsein gelangt ist, wir verstehen dieselbe, wenn wir den Grund ihrer Existenz und ihrer eigenthümlichen Beschaffenheit (den Grund ihres Daseins und ihres Soseins) erkannt haben.“ 340 Damit glaubte der Österreicher, die Lehre Schmollers an den Rand der theoretischen Nationalökonomie gedrängt zu haben.

Tatsächlich wurde das Verstehen zur Basis der modernen Nationalökonomie. Jenen Wandel sollte auch Sombart wahrnehmen und ihm seine Aufmerksamkeit widmen. Er unterschied in diesem Kontext „drei Nationalökonomien.“ Die Letzte unter ihnen trenne sich von den beiden anderen – metaphysischem Dogma sowie naturwissenschaftlichem Wissen – zu dem Zweck, eine „verstehende Nationalökonomie“ zu etablieren. 341 Hier hatte das Verstehen jedoch eine völlig andere Bedeutung als bei Menger. Sombart war der Meinung: „Wir machen uns eine Erscheinung verständlich, daß wir ihren „Sinn“ zu ergründen suchen, das aber bedeutet wieder: daß wir sie in einen uns bekannten Zusammenhang einbeziehen.“ 342 Die Erscheinungen zu gliedern und kausal interpretieren zu können, machte bei beiden Autoren einen Teil des Verstehens aus. Dem „Grund des Daseins und des Soseins“ stellte der Berliner Ökonom aber das „Sinnerfassen“ als Aufgabe der theoretischen Nationalökonomie gegenüber.

Die Frage nach dem Sinn beantworten zu wollen, setzte voraus, die Wirtschaftsinstitutionen zu begreifen. Nun liegen diese nicht in einer Nutzenfunktion, sondern in der Psychologie des wirtschaftlich handelnden Menschens sowie in der Kultur begründet. Diese zwei Dimensionen sollten Eingang in die theoretische Untersuchung finden. So hielt Sombart die verstehende Nationalökonomie nicht nur für eine Erfahrungswissenschaft. Sie sei auch Kulturwissenschaft, d.h. sie erforsche die reine „Seele“ des Homo-oeconomicus und seinen als Kultur „verkörperten“ Geist. Die geschichtsbewusste Wissenschaft müsse sich von der reinen Theorie nicht durch ihr Ziel, sondern durch die Breite ihres Forschungsfeldes abgrenzen. Letztendlich führte die neohistorische Betrachtung der Theorie Mengers zur Bejahung einer von Schmoller geprägten hermeneutischen Ökonomik zurück.

Obgleich sie unmittelbar kein Ergebnis hatte, war die Debatte um Menger und Schmoller auf keinen Fall nutzlos. Vielmehr brachte sie ebenso zahlreiche wie wesentliche Kritiken an beiden Seiten hervor, die sich später für die Weiterentwicklung der Wirtschaftssystemanalyse als äußerst fruchtbar erwiesen. Tatsächlich beschränkten sich die Beiträge von Sombart und Spiethoff nicht auf ihre dargelegten Kritiken. Selbige Autoren hatten sich vorgenommen, eine analytisch anwendbare Problemlösung zu liefern. Vor diesem Hintergrund wurde der Begriff des „Wirtschaftsstils“ eingeführt.

Notes
335.

Sombart [1902: XV-XVI].

336.

Sombart [1930: 319].

337.

Spiethoff [1932: 619].

338.

Ebd. 632.

339.

Roscher [1886: 48-60].

340.

Menger [1883: 14].

341.

Sombart [1930: 140-276].

342.

Ebd. 195.