2.2.3. Die Theorie des Wirtschaftsstils als Synthese

Gemäß ihrer vorherigen Kritikpunkte arbeiteten Sombart und Spiethoff eine Typologie zur empirischen Analyse von Wirtschaftssystemen aus, die einen heuristischen Apparat allgemeiner Gültigkeit bereitstellen sollte. Es galt, die Wirtschaftserscheinungen systematisch zu erforschen, um alle Ursachen eines Phänomens identifizieren zu können. Parallel dazu sollte von den Ursachen auf mögliche Wirkungen geschlossen werden, um die Leistungsfähigkeit der Analyse unter Beweis zu stellen. Theorie und Empirie dienten in komplementärer Weise dem Verstehen der „Ordnung des Wirtschaftslebens.“

Diesen Anforderungen genügte nach Auffassung Werner Sombarts die Idee des „Wirtschaftssystems.“ Darunter verstand er „eine als sinnvolle Einheit erscheinende Wirtschaftsweise, bei welcher die Grundbestandteile der Wirtschaft je eine bestimmte Gestaltung aufweisen. 343 Neben Sombart akzeptierte auch Spiethoff dieselbe „sinnvolle Einheit“, wie sie Roscher und Schmoller früher schon formuliert hatten. Roscher zufolge beschreibt das Wirtschaftssystem eine „Volks-wirtschaft“, denn: „Wie jedes Leben, so ist auch das Volksleben ein Ganzes [...]. Wer daher eine Seite desselben wissenschaftlich verstehen will, der muß alle Seiten kennen. 344 Die Nationalökonomie kann nicht auf eine Untersuchung der Sphäre aller exogenen Variablen verzichten, wenn sie die Wirtschaftserscheinungen begreifen wolle. Dieser Wunsch fand sich dann bei Spiethoff neu formuliert wieder, indem er das „Abbild der Wirklichkeit“ zum Ausgangspunkt seiner Stilanalyse machte. Während die ältere historische Schule zur Gesamtheit der Lebensrichtungen willkürlich Sprache, Religion, Kunst, Wissenschaft, Recht, Staat und Wirtschaft zählte, versuchte Sombart aber, die für die Wirtschaft relevanten „Grundbestandteile“ systematisch zu identifizieren.

Eine verstehende Nationalökonomie musste sich zum Ziel setzen, den Sinn der Wirtschaftstätigkeiten zu erfassen. Dafür ging Sombart von einer materiellen Definition des Wirtschaftens im Sinne von „Unterhaltsfürsorge“ aus. Deren Ausprägung sei vollständig vom „Natur-“ und „Kulturstil“ abhängig. Ersterer umfasse sämtliche Gegebenheiten, die ein Volk vorfinde: Land, Bevölkerungszahl, Klima, etc.. Der Kulturstil beinhalte alles, was durch menschliche Existenz und Tätigkeit die Wirtschaftserscheinungen lenke. Hierbei unterschied Sombart eine Kultur „materieller Natur“ – charakterisiert als die zur Verfügung stehenden Sachgüter – von einer Kultur „ideeller Natur“ –zusammengesetzt aus der von Staat, Kirche und Sitten bestimmten „institutionellen Kultur“ sowie aus der durch Wertvorstellungen und Erstrebungen geprägten „geistigen Kultur.“ Schließlich wirke der Kulturstil durch die „persönliche Kultur“ des Menschen auf das Wirtschaften ein. 345

Aus diesen Determinanten der Unterhaltsfürsorge abstrahierte Sombart drei Bestandteile eines Wirtschaftssystems: „Es ist die als geistige Einheit gedachte Wirtschaftsweise, die (1.) von einer bestimmten Wirtschaftsgesinnung beherrscht wird; (2.) eine bestimmte Ordnung und Organisation hat und (3.) eine bestimmte Technik anwendet.“ 346 Bei der Ausgestaltung jedes einzelnen Bausteins waren verschiedene Möglichkeiten denkbar, so dass der Berliner Ökonom seine Definition anhand von zwölf Merkmalen instrumentalisierte. Gemäß seiner Vorstellung ergab sich nachstehendes Schema:

Abbildung 1: Sombarts Wirtschaftssystem
Abbildung 1: Sombarts Wirtschaftssystem

Methodologisch entsprachen die Merkmale einfachen Dichotomien, die aus der Logik abgeleitet wurden. So stellte Sombart etwa dem „Bedarfsdeckungsprinzip“ als Trieb des Wirtschaftens das „Erwerbsprinzip“ gegenüber. Die Wirtschaftsführung könne entweder eine „traditionalistische“ oder „rationalistische“ Mittelauswahl treffen. Häufiger Verfahrenswandel spreche für einen im Grundsatz „revolutionären“ Umgang mit der Technik – im Gegensatz zu einer „stationären“ Handhabung, wo die Technik über längere Zeiträume hinweg beibehalten werde.

Mit diesem neu entwickelten Gedankengerüst war Sombart nun adäquat ausgestattet, sämtliche Formen der Wirtschaft in ihrer mannigfaltigen „Konkretheit“ schematisch darzustellen. Alle Realitäten wurden durch die Brille jener Typologie betrachtet, beschrieben und verglichen. Durch sein Vorgehen prägte er die Methode der modernen Wirtschaftssystemanalyse. Zwei Beispiele mögen zur Verdeutlichung dienen: Unter den „früheren Eigenwirtschaften“ ordnete Sombart die „Dorfwirtschaft“ ein. Damit meinte er eine „Wirtschaft seßhaft gewordener Ackerbauern, die das [...] gemeinsam besessene Siedlungsland unter der Bauernfamilie aufgeteilt haben.“ 347 Grundidee des Systems sei, die Bauernwirtschaft so groß zu gestalten, dass sie „ihren Mann ernähren“ könne. Nach vollständiger Analyse besitze die Dorfwirtschaft folgende Eigenarten: Bedarfsdeckungsprinzip, Traditionalismus und Solidarismus als Wirtschaftsgesinnung; eine Mischung von Privat- und Gemeinwirtschaft sowie demokratische Regelungen; empirische, stationäre und organische Ausprägungen der Technik. Davon grenzte Sombart u.a. den „Kapitalismus“ ab, der vom Erwerbsprinzip, Individualismus oder Konkurrenzprinzip und ökonomischen Rationalismus gelenkt werde. Er stütze sich auf die Freiheit der Wirtschaftstätigkeit sowie privatwirtschaftliche Organisationen und sei durch eine aristokratische Gesellschaftsstruktur gekennzeichnet. 348

Während von den drei Grundbestandteilen des Schemas sowohl Form als auch Technik auf Marx zurückgingen, 349 bildete die Wirtschaftsgesinnung Sombarts Kernidee. Er verstand darunter „alle Wertvorstellungen, Zwecksetzungen, Maxime, die in den die Wirtschaft gestaltenden Personen lebendig werden.“ 350 Ferner machte Sombart die sittliche Einheit der drei Bestandteile zum roten Faden seiner historischen Untersuchungen: „Es ist ein Grundgedanke dieses Werkes, daß je zu verschiedenen Zeiten eine verschiedene Wirtschaftsgesinnung geherrscht habe und daß es der Geist ist, der sich eine ihm angemessene Form gibt und dadurch die wirtschaftliche Organisation schafft.“ 351 Wirtschaftssysteme als Ganzes seien kein aus Einzelteilen montierter Mechanismus. Vielmehr vereinigten sie mehrere Strukturprinzipien, deren Übertragung auf Geist, Form und Technik eine charakteristische Einheit – besser, eine Ästhetik – ergeben könne.

Der Begriff Sombarts beschrieb daher weniger ein Wirtschaftssystem, wie er es nannte, sondern eher schon einen „Wirtschaftsstil“ im Sinne von Müller-Armacks „Einheit des Ausdrucks und der Haltung.“ 352 Im wirtschaftspolitischen Teil seiner Werke definierte Müller-Armack später die „Sozialmarktwirtschaft“ als „Wirtschaftsstil des Kompromisses“ zwischen dem durch den Markt zur Geltung kommenden Prinzip der Wirtschaftsleistung und dem gemäß sozialer Gerechtigkeit vereinbarten Umverteilungsprinzip für die zum Leistungswettbewerb nicht Fähigen. 353 Beide Prinzipien in einem System der freien Wirtschaft zusammenzubringen hielt der liberale Ökonom Friedrich August von Hayek (1899-1992) für unsinnig. Die Leistung des Marktes entspreche dem Beitrag aller zur Wirtschaftskraft und könne keinesfalls sozial sein, oder anders ausgedrückt sei nach einem utilitaristischen Gerechtigkeitsprinzip der Markt per se immer sozial. 354 Trotz der Virulenz von Hayeks Worten beweisen aber alle heutigen westlichen Wirtschaftsverfassungen, dass eine politische Abmachung – verwirklicht beispielsweise durch einen von Staat, Arbeitgebern und Gewerkschaften vereinbarten Mindestlohn – imstande ist, zwei antinomische Gesellschaftsprinzipien in Einklang zu bringen. Das Stilkonzept entspricht einem Ensemble wirklicher Feststellbarkeit, indessen stellt das System nur ein Kausalitätsgefüge logischer Prüfbarkeit dar.

Hinsichtlich der Entwicklung des Stilkonzepts hatte schließlich Arthur Spiethoffs Beitrag zentrale Bedeutung. Er erstellte einen Merkmalskatalog, der weiter auf Sombarts Gedankengut aufbaute, in der Absicht „nicht von Wirtschaftssystemen sondern von Wirtschaftsstilen [zu] sprechen.“ 355 Anstelle dreier Bausteine unterschied er fünf Bestandteile, die sich teils mit der Gliederung von Sombart deckten, teils anders geordnet waren. So hatte die Wirtschaftsgesinnung bei Spiethoff den „Wirtschaftsgeist“ als Pendant. Die Form jedoch spaltete sich in eine „Gesellschaftsverfassung“ und „Wirtschaftsverfassung“ auf, der Technik wurden natürliche Grundlagen im Sinne eines „Naturstils“ hinzugefügt.

Als erstes Element des Wirtschaftsgeistes führte Spiethoff die seit dem Mittelalter konkretisierten „sittlichen Zweckeinstellungen“ an: „Das Reich Gottes wird erstrebt; wirtschaftliche Erfolge werden erstrebt als Zeichen göttlicher Erwählung; die Belange der Allgemeinheit werden als Richtschnur genommen; das höchstirdische Glück des einzelnen wird erstrebt.“ Außerdem kam er auf „die seelischen Antriebe zum wirtschaftlichen Handeln“ von Adolf Wagner zurück. Nicht zuletzt behielt Spiethoff die aristotelische Gegenüberstellung, welche Sombart als Bedarfsdeckung und Erwerbsprinzip aufgegriffen hatte, bei und zwar bezeichnet als „Nahrungs- oder Erwerbsziel.“ Schließlich umfasste der Wirtschaftsgeist die „geistigen Einstellungen“, insbesondere zur Technik. Als zweiten Bestandteil behandelte Spiethoff die „natürlichen und technischen Grundlagen.“ Hier spielten das Tempo von Bevölkerungsveränderungen sowie die Verbreitung der technischen Arbeitsteilung eine ähnliche Rolle wie bei der jüngeren historischen Schule. Unter dem dritten Aspekt „Gesellschaftsverfassung“ skizzierte er das soziale Gesicht der Wirtschaftsordnung, in erster Linie je nach Art des gesellschaftlichen Verbundenseins: Blutsverwandtschaft, Zwang, Vertrag. Zum vierten Baustein „Wirtschaftsverfassung“ gehörten die Eigentums-, Hersteller-, Arbeits- und Verteilungsrechtssysteme.

Spiethoffs Beitrag war jedoch mehr als eine geschickte Neuformulierung der Typologie Sombarts. Zu seinem Wirtschaftsstil zählte ein fünfter, bei Sombart noch nicht erwähnter Bestandteil, nämlich der „Wirtschaftslauf“, d.h. die Dynamik – „ständige Wirtschaft, fortschreitende Wirtschaft, Wirtschaftsablauf im Wechsel von Aufschwung und Stockung.“ 356 Sicher lag Hans Rieter richtig, indem er behauptete, durch Einführung dieser Problematik sei die deutsche Stilanalyse der Zeitströmung der internationalen Makroökonomie erlegen. 357 Die Weltwirtschaftskrise 1929 und das Werk von Keynes hatten der Konjunkturtheorie Elan gegeben. 358 Doch die auf der Stilanalyse basierende Krisentheorie war nicht nur eine Mode. Wie Salin anmerkte, entwickelte Spiethoff in seinen „Wirtschaftlichen Wechsellagen“ von 1955 eine Krisenlehre, die als „anschauliche Theorie hochkapitalistischer Wechsellagen“ tituliert werden könne. 359 Umgekehrt zeigte Spiethoff damit, inwiefern die von der Stilanalyse inspirierte historische Theorie ihren Beitrag zur modernen Makroökonomie zu leisten vermochte.

Für die Stillehre brachte dieser fünfte Bestandteil einen besonderen Fortschritt mit sich. Denn durch ihn wurde angedeutet, dass Stile ihre eigene Dynamik entfalten können. Heute beispielsweise bietet sich unserer postkeynesianischen Gesellschaft wahlweise ein „harter Weg“ an, charakterisiert durch die Substitution von Erdöl durch Nuklearenergie sowie den Einsatz komplexerer Technik, einhergehend mit einer weiter wachsenden Wirtschaft, steigendem Welthandel und fortgesetzter Unternehmenskonzentration; oder ein „sanfter Weg“ gekennzeichnet durch die Nutzung von Solaranlagen verbunden mit starker Energieeinsparung, bei dessen Beschreiten sich vermutlich das Tempo des Fortschritts verlangsamen, der Grad an Autarkie und Dezentralisierung zunehmen, die Marktkräfte sowie das kleine Unternehmertum zusammen mit dem Handwerk aufgrund der Verwendung mittlerer Technologien gefördert würden. 360 Aber auch für die Konjunkturanalyse ist eine Stilbetrachtung nützlich. So kann Spiethoff historisch demonstrieren, dass eine Krise je nach Wirtschaftsverfassung und vorherrschendem Wirtschaftsgeist verschiedene Erscheinungsbilder annimmt. Im Hochkapitalismus, dessen Hauptmerkmale die volle Ausprägung des Erwerbsziels und zentrale Bedeutung der Wertpapierbörse seien, bestünde die Ursache eines Zusammenbruchs primär in der Spekulation an den Aktienmärkten. Im Altertum hingegen habe die Spekulation wegen anderer sittlicher Einstellungen keine große Rolle gespielt, so dass unter diesen Bedingungen der Warenhandel als Auslöser von Krisen zu sehen sei.

Anhand der Erläuterung des heuristischen Apparates von Sombart und Spiethoff wird ersichtlich, inwieweit sich der Stilbegriff durch konzeptuellen Fortschritt von den Wirtschaftsstufen distanziert und über welche Kontaktpunkte er noch an die alte Lehre gebunden bleibt. Folgende zusätzliche Anmerkungen mögen dies verdeutlichen.

Größter Unterschied zu den Wirtschaftsstufen ist die „Behandlung des Querschnittes.“ 361 Die Stufenbildner verfolgten die Entwicklung eines einzigen Merkmals, während sich der Stil in zwölf oder sechzehn Arteigenheiten gliedert. Außerdem war diese schon reiche Auswahl für Spiethoff noch nicht endgültig. Der Merkmalskatalog könne im Zuge der Beobachtung des Wirtschaftslebens immer weiter anwachsen. Die Stilanalyse verdankt ihre Relevanz also nur zum Teil den Einzelheiten der Typologie, wohingegen sie doch den Wirtschaftsstufen ihre ganze Bedeutung verleihen. Grundsätzlich kann eine Ansammlung einzelner Stufen keinen Stil ergeben, selbst wenn sie alle seine Merkmale vollständig enthalten. Die Stufen sind laut Spiethoff für den Stil unbrauchbar, da sie nicht „die Einzelerscheinungen des Wirtschaftslebens in der Zusammengehörigkeit“ zu erfassen vermögen. Ein Stil bilde einen Querschnitt des gesamten Wirtschaftslebens, indessen untersuchten die Wirtschaftsstufen lediglich den geschichtlichen Werdegang eines besonderen Aspekts im Längsschnitt. Insofern suchten die Stufenbildner oft nur nach dem „kennzeichnendsten Merkmal, das die Entwicklung der Stufen am augenfälligsten zeigt.“ 362

Ferner erfordert die Querschnittsanalyse eine andere Methode als die Längsschnittbetrachtung: Im Unterschied zu den Wirtschaftsstufen, die mittels Beobachtung Gestalt annehmen, verfügt der Nationalökonom mit dem Stil über einen theoretischen Rahmen zur Erforschung einer historischen Wirtschaftsordnung. Das Verfahren ist insofern weitergehend, als die Merkmale zunächst durch induktive Logik benannt werden. Stehen diese Begriffe fest, gilt es dann, die Wirklichkeit zu erforschen, Merkmale zu identifizieren und als konkreten Stil zu gliedern. Anschließend kann der Stilanalyst die wirtschaftlichen Erscheinungen innerhalb eines Stils noch deduktiv erklären. 363 Die Stufenbildung entspricht der „einfachen Schilderung“ von Wirtschaftserscheinungen. Die Stilanalyse erfüllt zusätzlich eine theoretische Aufgabe, die aber nicht zur reinen Theorie Mengers zurückführt, da Ursachen und Bedingungen in ihrer Gesamtheit vereinigt sind.

Dennoch bleiben die Weiterentwicklungen von Sombart und Spiethoff der Wirtschaftsstufenlehre in zwei Hinsichten treu. Die Stufen entsprachen einer unzertrennlichen Abfolge geschichtlichen Werdens. Jede Etappe barg im Kern die noch nicht entfalteten Arteigenheiten der nächsten Phase in sich. Somit ließ sich aus dem Anerkennen einer Stufe in deterministischer Logik ebenfalls die Akzeptanz der nachfolgenden und vorherigen Stufe ableiten. Für Hildebrand gab es keinen Zweifel daran, dass das System der Geldwirtschaft auf dem Boden einer Naturalwirtschaft entstand und zur Kreditwirtschaft führen würde. Darüber hinaus dachten auch die Stufenbildner, dass „das Alte allmählich vom Neuen besiegt werde.“ 364 Demzufolge war Evolution gleichzusetzen mit einem normativen Fortschritt des Systems: Nur ein höheres Stadium könne sich gegen eine veraltete Stufe durchsetzen. Der geschichtliche Ablauf drücke aber nicht allein wirtschaftliches Vorankommen aus. Noch immer von deutscher idealistischer Philosophie geprägt, glaubte die Stufenlehre, dass Wirtschaftsentwicklung nicht nur materielle sondern auch ethische Verbesserungen der Gesellschaft mit sich bringe. Der Idee Lessings folgend verglich Bruno Hildebrand den wirtschaftlichen Fortschritt mit der „Erziehung des Menschengeschlechts.“ 365

Die erschütternden Ereignisse, die Deutschland zwischen Kaiserreich und Republik erlebte, hatten den Einflussbereich des Idealismus deutlich geschmälert. Er findet daher als Doktrin in der neohistorischen Synthese keinen Platz mehr. Diese ankert mit dem Bejahen einer verstehenden Nationalökonomie jedoch an einer Hypothese fest, die den Bezug der alten Wirtschaftsstufenlehre zum Idealismus begünstigte. In der Tat setzt die Parallelität von gesellschaftlichem und materiellem Fortschritt voraus, dass geistige Beweggründe des wirtschaftlich handelnden Menschen ein Echo in der Wirtschaftsordnung finden können, bzw. dass Letztere Ausdruck der Ersteren sein kann. Hildebrand hatte zwei Hauptseiten einer Volkswirtschaft wahrgenommen, wobei nur die Untersuchung sowohl des ethisch-politischen Teils als auch des wirtschaftlich-materiellen Teils das Wirtschaftsleben als Ganzes verständlich machte. 366 Aus demselben Grund hatte Schmoller dafür plädiert, die Nationalökonomie auf psychologischen, ethischen sowie rechtsphilosophischen Studien zu basieren. 367 Die Stilanalyse kommt dieser Forderung mit ihrer eigenen Methode nach, erkennt die Komplementarität zwischen Wirtschaftsgeist und Wirtschaftsordnung und erforscht sie in ihrer Interdependenz als ein einziges Objekt.

Auch von der deterministischen Sichtweise trennt sich Sombart nicht gänzlich. Sicher ist sie nicht mehr so naiv wie zuvor. Die Transformation einer Wirtschaftsdemokratie in eine Wirtschaftsaristokratie sieht er als Rückschritt des Kapitalismus im Vergleich zur vorherigen Epoche des handwerklichen Wirtschaftssystems an. Seine Erklärung bleibt aber insofern deterministisch, als er sich zum Ziel setzt, eine Entwicklungstendenz herauszufiltern. Nicht linear führe die Wirtschaftsaristokratie zur Wirtschaftsdemokratie, sondern sie würden wechselweise verwirklicht. So zieht Sombart den Schluss, dass sich nach dem kapitalistischen System nur eine Wirtschaftsdemokratie anschließen könne. 368

Diese überarbeitete deterministische Entwicklungslogik formuliert Sombart später theoretisch. Mit dem System als theoretischer Kategorie stimmen in der Geschichte die „Wirtschaftsepochen“ überein. Selbige nennt er „eine Zeitspanne, während welcher ein Wirtschaftssystem in der Geschichte verwirklicht wird, oder: während welcher das Wirtschaftsleben die einem bestimmten Wirtschaftssystem zugehörigen Züge aufweist.“ 369 Jedes System entstehe im Rahmen eines anderen, so dass Epochen nach Übergangszeiten logisch aufeinander folgten. Dementsprechend gibt es für Sombart bei allen konkreten Wirtschaftssystemen eine „Frühepoche“, d.h. den Zeitraum in dem sich die Systemkomponenten entwickeln, sowie eine „Hochepoche“, während der „ein einzelnes Wirtschaftssystem sich verhältnismäßig rein verkörpert und dem gesamten Wirtschaftsleben den Stempel aufdrückt.“ Sie wird von einer „Spätepoche“ abgelöst, in der das System auf dem Rückzug ist. 370 Zyklisch geschlossen entspricht die Spätepoche einer Form des Wirtschaftslebens zugleich der Frühepoche des nachfolgenden Systems.

Ähnliche Eigenschaften sind in Spiethoffs Theorie der wirtschaftlichen Wechsellagen enthalten. Hier konzipiert er für den Stil der Hochepoche des Kapitalismus einen „Musterkreislauf“ konjunktureller Schwankungen, in dem sich sechs Stufen aneinander reihen und einen vollständigen Zyklus bilden. Nach dem „Niedergang“ setzen der erste und zweite „Anstieg“ ein, dann ein „Hochschwung“, der von „Kapitalmangel“ über eine „Krise“ zurück zum „Niedergang“ führt. 371

Notes
343.

Sombart [1927: 14].

344.

Roscher [1886: 34].

345.

Sombart [1902: 3-26].

346.

Sombart [1927: 14].

347.

Ebd. 21.

348.

Ebd. 27-30.

349.

Schefold [1994a: 225-226].

350.

Sombart [1902: 13].

351.

Ebd. 25.

352.

Müller-Armack [1974: 57].

353.

Ebd. 90-107.

354.

Hayek [1967a: 237-250].

355.

Spiethoff [1932: 75-78] Zitat 76.

356.

Ebd. 77.

357.

Rieter [1994: 155].

358.

James [1989: 231-262].

359.

Salin in Spiethoff [1955: 5].

360.

Schefold [1995a: 33-35].

361.

Spiethoff [1932: 72].

362.

Ebd. 75.

363.

Zur vollständigen Methode der Stilanalyse durch Anwendung einer anschaulichen Theorie vgl. Spiethoff [1949: 567-664].

364.

Eucken [1940: 44].

365.

Hildebrand [1848: 357].

366.

Hildebrand [1848: 336-356].

367.

Schmoller [1883: 54].

368.

Sombart [1927: 31-32].

369.

Ebd. 30.

370.

Sombart [1930: 228].

371.

Spiethoff [1955: 55ff].