2.3.1. Walter Euckens Dissertation: Eine Anwendung der historischen Methode mit inhaltlichen Abweichungen bezüglich der Kartellfrage

Nachdem er Nationalökonomie, Geschichte und Philosophie in Kiel, Bonn und Jena studiert hatte, promovierte Walter Eucken 1913 in Bonn bei Professor H. Schumacher. 372 In seiner Doktorarbeit untersuchte er „Die Verbandsbildung in der Seeschiffahrt.“ Die Arbeit umfasst vier Teile. Der Erste behandelt „die Entstehung der Verbände in der Seeschiffahrt.“ Im zweiten Abschnitt stellt Eucken „die Organisationsformen der Verbände in der Seeschiffahrt“ dar. Teil drei erklärt „die Politik der Verbände in der Seeschiffahrt.“ Abschließend werden „die Wirkungen der Verbände in der Seeschiffahrt und ihre Folgen“ untersucht. 373 In seiner Dissertation liefert Walter Eucken also eine monographische Studie für einen Sektor des Verkehrswesens, wobei sich seine Arbeit auf die Entstehung sowie Entwicklung des dortigen Kartells konzentriert.

Damit reiht sich diese erste bedeutende Schrift von Eucken thematisch sowie methodisch in die Bahn des Programms Schmollers ein. Der Bonner Doktorand macht sich die von Schmoller definierten drei Aufgaben der strengen Wissenschaft zu Eigen – 1. richtig beobachten, 2. gut definieren und klassifizieren, 3. typische Formen finden und kausal erklären. Er favorisiert es auch, Organisationsformen in Längsschnitten darzustellen; eine Methodik, der – wie eben demonstriert wurde – im Programm der alten historischen Schule bis hin zu demjenigen Schmollers die Hauptrolle zukam. Dazu Eucken: „So ward es zur lohnenden Aufgabe die Verbandsbildung in der Seeschiffahrt zu betrachten. Diese Aufgabe konnte im einzelnen in doppelter Weise gestellt werden. Man konnte entweder eine Geschichte der Verbandsbildung in den einzelnen Routen geben, oder man konnte eine Darstellung geben, welche die allgemeine Entwicklung aufzuklären trachtet. Der Verfasser hat sich für den letzteren Weg entschieden; [...] Bei letzterer Art der Darstellung war es allein möglich, die wesentlichen Gesichtspunkte klar hervorzuheben, [...] und damit in dem Strom der flüchtigen Erscheinungen das wesentliche zu erkennen.“ 374 Mit dem Fokus auf das Kartell gerichtet, konzentriert sich die Monographie außerdem auf ein von Schmoller als wichtig eingestuftes Wirtschaftsorgan.

Allerdings fehlt Walter Euckens Arbeit von Anfang an eine Dimension, die das Programm der historischen Schule insgesamt charakterisiert: Eine Betrachtung der ethisch-moralischen Komponente sowie ihrer Entwicklung ist in seiner Dissertation nicht zu finden. Eucken untersucht die Entstehung der Verbände, das Zustandekommen und später die Ausschaltung von Konkurrenz im Wirtschaftssektor der Seeschifffahrt rein auf Basis rechtlicher und technischer Rahmenbedingungen. So erklärt er die Verbandsbildung durch die sich lösende Verbindung des Seehandels mit den Reedereien und die Entwicklung der Linienschifffahrt weitgehend durch technische Ursachen. Der Grad der Kartellisierung, welcher im Personengeschäft niedriger als im Frachtverkehr sei, hänge von Art und Umfang der Transporte ab. 375 Konkurrenz entstehe in der Seeschifffahrt hauptsächlich dank technischem Fortschritt, wie u.a. dank eingeführter Telegraphen oder verbesserter Verkehrsverbindungen im Hinterland. 376

Die methodologische sowie thematische Nähe von Euckens Dissertation zur historischen Schule ist unabweislich. Allerdings genügt dieser Befund nicht, um den jungen Walter Eucken in das Gedankengebäude der historischen Schule einzuordnen. Die Anpassung eines Promovierenden an akademische Anforderungen der dominierenden Nationalökonomie seiner Zeit ist an sich keine große Überraschung. Insofern erscheint es interessanter zu bemerken, dass in Walter Euckens Doktorarbeit bereits Entfernungspunkte zur historischen Schule vorhanden sind. Der zukünftige Freiburger Professor weicht in seiner Dissertation inhaltlich von den Lehrsätzen Schmollers ab. Seine Forschungsarbeit über die Wirkungen der Verbände in der Seeschifffahrt und ihren Folge führt ihn, was die Rolle des Kartells betrifft, zu anderen Schlussfolgerungen als Schmoller.

Um zu jenen Schlussfolgerungen zu gelangen, analysiert Eucken Auswirkungen der Verbände auf die freie Seefahrt, die Linienschifffahrt, den Personenverkehr und den überseeischen Güterverkehr für verschiedene Länder. Mit dieser empirischen Untersuchung bekräftigt er zunächst Schmollers Lehre. Wie die Hauptfigur der historischen Schule stellt Eucken fest, dass Verbände mit allen Mitteln versuchten, freie Konkurrenz auszuschalten, was ohne Gegenmaßnahmen des Staates (z.B. Eingriffe in das Rabattsystem der Verbände) im Allgemeinen auch gelinge. In der Seeschifffahrt brächten Verbände Vorteile aufgrund von Skalenerträgen mit sich. Sie seien außerdem ein wichtiges Medium zur besseren Vertretung des nationalen Interesses. Dagegen konstatiert Eucken, dass die Verbandspolitik nicht allen Marktakteuren zugute komme. So stellt er in von Verbänden beherrschten Schifffahrtsbereichen eine Tendenz zu höheren Frachtkosten fest, obwohl er anmerkt, es sei unmöglich zu schätzen, um wieviel niedriger der Preis bei vollständigerem Wettbewerb läge. 377 Heute würde man diesbezüglich schlicht sagen, Verbände minderten die Konsumentenrente.

Im Unterschied zu Schmoller lautet Euckens Fazit, dass in der Seeschifffahrt die Vorteile gegenüber den Nachteilen nicht überwiegen. Im Gegenteil schadeten die Verbände mit ihrer Preispolitik Außenseitern und der Nachfrage bzw. den Passagieren, besonders deshalb müsse man sie bekämpfen. Für die Betroffenen sei es allerdings sehr schwer, gegen die Verbände vorzugehen, weil Erstere aufgrund ihrer großen Zahl oder der Verschiedenheit ihrer Interessen sich nicht zusammenschließen könnten. So seien der „Selbsthilfe“ enge Grenzen gesetzt. „Staatshilfe“ erscheine vielversprechender. Jedoch stehe die Regierung im Vorkriegs-Deutschland zwecks Förderung der nationalen Industrie den Verbänden eher freundlich gegenüber. Daher hätte man von deutscher Regierungsseite auch nicht viel zu erwarten. Eucken verweist aber darauf, dass in anderen Ländern wie den USA oder Brasilien die Bekämpfung der Verbände großgeschrieben werde. Theoretisch betrachtet er zwei Hauptmittel zu diesem Zweck: das Verbot von Verbänden versus die Verstaatlichung der Linienschifffahrt. Das Erste betreffend kommt Eucken zu einem ähnlichen Verdikt wie Schmoller: „Ein solches Verbot kann sich einerseits nur auf bestimmte Rechtsformen beziehen; die Linien, die eine ökonomische Notwendigkeit zum Zusammenschluß treibt, werden andere Formen ausfindig machen. Dies ist eine Schwierigkeit, die sich allen Verboten von Kartellen, auch denen der Industrie, entgegenstellt.“ Was eine Verstaatlichung von Verbänden angeht, ist Eucken aus finanziellen, wirtschaftlichen sowie politischen Gründen kaum optimistischer. Vielmehr empfiehlt er, „zu solchen Maßnahmen zu greifen, die den Bestand der Verbände zwar nicht zu verhindern trachten, wohl aber deren Politik, soweit sie wichtige Interessen verletzt, unmöglich machen.“ Zum Schutz von Außenseitern und der Nachfrageseite denkt Eucken hier hauptsächlich an Einflussnahmen des Staates auf die Preisgestaltung sowie an finanzielle Unterstützung der Außenseiter durch Subventionen und Erlass besonderer Abgaben. Neben diesem wirtschaftlichen Spektrum des Staatseingriffs zieht er abschließend – allerdings ohne näher darauf einzugehen – auch noch rechtliche Mittel in Betracht, die den Verbänden das Geschäft erschweren sollen (Genehmigungen, Kontrollen, etc.). 378

Notes
372.

Goldschmidt [2005: 59].

373.

Eucken [1914: IX-X].

374.

Ebd. VII-VIII.

375.

Ebd. 1-18.

376.

Ebd. 19-36.

377.

Ebd. 215-273.

378.

Ebd. 273-292.