1. Phänomen und Theorie der Wirtschaftskrise

1.1. Die Möglichkeit wirtschaftlicher Krisen: Kritik des Say'schen Theorems

1.1.1. Das Theorem der gesicherten Absatzwege oder die Unmöglichkeit genereller und dauernder Wirtschaftskrisen

Lange sahen klassische Ökonomen wie Say, Mill oder Ricardo Krisen und konjunkturelle Schwankungen als ein kurzfristiges Phänomen an, das die verschiedenen Wirtschaftsdaten aus ihrem normalen Gleichgewichtszustand brachte. 387 Oft wurde dieser vorübergehende „Fehler“ des Marktsystems auf eine Anpassungsbewegung zurückgeführt, die sich nach Änderung der Produktionsfunktion (technischer Fortschritt) oder Erweiterung der Nachfrage (Bevölkerungszuwachs) als nötig erwies, um zum neuen Gleichgewicht zu gelangen – je größer die Abweichung, umso stärker der Korrekturbedarf, umso heftiger die Schwankungen. Nur Störfaktoren der Marktordnung könnten verzögern oder verhindern, dass Unternehmer und Konsumenten sich an die neuen Austauschbedingungen anpassten. Die Annahme langfristiger Konvergenz der Marktpreise hin zu ihrem natürlichen Niveau entspricht dem Anpassungsprozess. Die klassische Lehre führt demnach unausweichlich zur Akzeptanz einer natürlichen Tendenz zur Verwirklichung des Gleichgewichts. In diesem Schema existiert kein echter Grund für dauerhafte und allgemeine Krisen. 388

Das klassische Verständnis der Koordinierung von Angebot und Nachfrage basiert auf dem Say'schen Theorem, 389 welches postuliert, dass die Herstellung neuer Produkte zugleich eine Absatzmöglichkeit für andere Güter bietet. Hat der Produzent seine Ware erzeugt, neigt er dazu, sie sofort in andere Ware einzutauschen. Das Angebot schafft seine eigene Nachfrage: Überproduktion kann nicht generell und anhaltend auftreten. Sind Kapital und Arbeit am Anfang einer Periode frei, besteht kein Grund für eine fortwährende Unterbeschäftigung der Faktoren. Dem Say'schen Theorem zufolge ist dem Produzenten sicher, seine zusätzliche Produktion zu Preisen abzusetzen, die seine Kosten mindestens decken. 390 Eine allgemeine Unterbeschäftigung der Faktoren über mehrere Perioden hinweg kann nur aus einer strukturbedingten Abweichung der Marktpreise für Kapital und Arbeit von ihrem natürlichen Level resultieren, die die Unternehmer abhält, alle Reserven der Volkswirtschaft auszunutzen. Sozialversicherungsbeiträge sowie Mindestlöhne bringen z.B. den abnehmenden Grenznuten der Arbeit auf ein Niveau, das über dem Vollbeschäftigungslohn liegt, und verursachen damit eine verringerte Nachfrage nach Arbeitskraft.

Ist bei Vollbeschäftigung Ersparnis aus der vergangenen Periode innerhalb der Volkswirtschaft vorhanden, wird sie investiert. 391 Durch Investitionen wächst die Wirtschaft: Sie expandiert in der Regel dadurch, dass zusätzliches Geld in die Kapitalgüterindustrie fließt, um neue Produktionskapazitäten zu schaffen. Es wird nach Produktionsumwegen in genussreife Güter umgewandelt. Die durch Ersparnis finanzierte Mehrproduktion generiert zusätzliches Einkommen für die Nutzung von Kapital, Boden und Arbeitskraft, das – einmal verteilt – automatisch in zusätzlichen Konsum fließt und die neu erzeugten genussreifen Güter absorbiert. So stellt sich der klassische Wirtschaftsprozess dar, der eine Übereinstimmung von Produktion und Konsumtion gewährleistet.

Ganz anders aber gestaltet sich die Realität in einer Kreditwirtschaft: Zeit spielt eine bedeutende Rolle bei der Koordinierung von Wirtschaftsplänen, so dass Entscheidungen ihren Effekt in der Zukunft entfalten, während weitere Entscheidungen schon gefallen sind oder noch getroffen werden. All dies bringt Angebot und Nachfrage in schwankende Relation und verzögerte Anpassung zueinander, wodurch mitunter eine Krise ausbrechen kann.

Notes
387.

Im Falle einer Verkehrswirtschaft charakterisiert ein Gleichgewicht die Lage, in welcher Wirtschaftsagenten in Bezug auf die erhaltenen Informationen und unter Berücksichtigung ihrer Einkommensbeschränkungen nicht gezwungen sind, ihre Pläne zu modifizieren, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Ein Gleichgewicht bezeichnet also ein besonderes Verhältnis der Wirtschaftsgrößen zueinander, das sich nicht „bewegt“ (Guerrien [1996: 190-192]).

388.

Müller-Armack [1929: 650].

389.

Ebd. 653.

390.

Ricardo hält das Say'sche Theorem für gültig und stellt es mit folgenden Worten dar: "Say hat indessen in durchaus zufriedenstellender Weise gezeigt, dass es keine Kapitalsumme gibt, die nicht in einem Lande verwendet werden könne, da die Nachfrage nur durch die Produktion beschränkt wird. Niemand produziert, außer mit der Absicht zu konsumieren oder zu verkaufen, und er verkauft niemals, außer um eine andere Ware zu kaufen, die ihm entweder nützlich sein kann oder zur künftigen Produktion beizutragen vermag. Durch Produzieren wird er also notwendigerweise entweder Konsument seiner eigenen Ware oder Käufer und Konsument der Waren eines anderen. Man kann nicht annehmen, dass er für längere Zeit über die Waren falsch unterrichtet sein wird, die er mit größtem Vorteil produzieren kann um das ins Auge gefaßte Ziel zu erreichen, nämlich den Besitz anderer Ware. Es ist daher nicht wahrscheinlich, dass er fortwährend eine Ware produzieren wird, für die es keine Nachfrage gibt" (Ricardo [1812: 245-246]).

391.

Dazu muss ergänzt werden, dass bei den Klassikern Ersparnis eher bei den Produzenten als bei den Arbeitern auftritt. Letztere bekommen in der Theorie an Mitteln nur, was zum Erhalt ihrer Familie nötig ist (cf. Teil 1). Das Weltbild der Klassiker ist das eines sich zum Hochkapitalismus entwickelnden Wirtschaftssystems, dessen Einkommensverteilung u.a. von den Prä-Romantikern und Sozialisten kritisiert wurde.