1.1.3. Zeitliche Lenkung des Wirtschaftsprozesses

Zweitens verschweigt das Say'sche Theorem, dass der komplette Kreislauf, in dem sich Wirtschaftswachstum vollzieht, zeitlich gelenkt ist: Die Umwandlung der verfügbaren Ersparnis in zur Produktion bereites Kapital, die Produktion selbst sowie die anschließende Aufteilung des Einkommens zwischen Konsum und Ersparnis, alle diese Etappen nehmen Zeit in Anspruch. Ferner gibt es in einer Kreditwirtschaft keine zeitliche Abstimmung der Entscheidungen zahlreicher Wirtschaftsagenten. 392 Gerade durch die Funktionen des Geldes – Tauschmittel, Recheneinheit und besonders Wertaufbewahrung – ergibt sich die Möglichkeit, Geld jederzeit und in beliebiger Menge in Güter zu konvertieren. Die Phasen des Kreislaufs folgen einander in zeitlich sowie quantitativ diffusem Zusammenhang.

Je länger der notwendige Produktionsumweg zur Transformation von Kapital in konsumreife Güter, desto länger dauert es, bis sich eine Investition rentiert. Wegen dieser benötigten „Ausreifungszeit des Kapitals“, 393 ist nicht gewiss, ob das Produkt einer Investition seinen Absatz findet. Die Investitionsentscheidung fällt zu einem Zeitpunkt, zu dem der Unternehmer erwartet, dass auf dem anonymen Markt eine Nachfrage nach seinen Gütern existiert und während des Investitionsprozesses ungedeckt bleibt. Je länger aber die Ausreifungszeit, umso stärker kann sich die Marktlage ändern, umso größer wird das unternehmerische Risiko. Erfüllen sich die Unternehmererwartungen am Ende nicht, besteht die Gefahr, dass das Angebot nur zu geringeren Mengen respektive Preisen auf eine Nachfrage trifft. Die Investition verursacht trotzdem ihre Kapital- und Arbeitskosten. Inklusive Lagerhaltung nicht abgesetzter Güter und Abschreibungen können die Investitionskosten sogar höher liegen als geplant, „gezwungenes Sparen“ hervorrufen, 394 und den Investitionsgewinn bis zum einem Punkt schrumpfen lassen, wo kein Mehr an Einkommen zur Verteilung übrig bleibt. Das Sparkapital der vorherigen Periode geht für zusätzlichen Konsum verloren.

Die zeitliche Lenkung des Wirtschaftsprozesses betrifft ebenfalls die Einkommensverteilung. Agenten sind nur in der Lage, mehr zu konsumieren, wenn sowohl ihr Einkommen als auch ihre Kaufkraft steigt. Geht man allerdings von einer generellen Investitionsphase in der Wirtschaft aus – ausgelöst durch eine außergewöhnliche Erhöhung der Unternehmensgewinne relativ zum marktüblichen Zinssatz –, gestaltet sich das Bild wie folgt: Erstes Anzeichen des Aufschwungs bildet die Zunahme fester Kapitalanlagen. Die Nachfrage nach Investitions- und Gebrauchsgütern wächst. Ihre Befriedigung bleibt jedoch eingeschränkt, da das Angebot technisch bedingt unelastisch ist. Insofern steigen die Produzentenpreise relativ früh im Zyklus. Später verallgemeinert sich der Preisauftrieb zu Konsumentenpreisen. Inflation begleitet den Wirtschaftsaufschwung, obgleich mehr Güter vorhanden sind. 395 Mit der Investitionswelle sollte die Beschäftigung eigentlich proportional zur marginalen Arbeitsproduktivität zunehmen. Inwieweit die gesamte Lohnsumme wächst, hängt aber von den Tarifverhandlungen der vorherigen Periode sowie von den Lohnnebenkosten ab. Lohnansprüche der Tarifpartner orientieren sich am Wirtschaftswachstum und am generellen Inflationsspiegel, so dass empirisch eine Steigerung der realen Lohnrate und damit des Konsumpotenzials erst spät nach Einsetzen der konjunkturellen Aufwärtsbewegung auftritt. In welchem Ausmaß die Arbeitnehmer vom Aufschwung profitieren, liegt dann an ex post, im weitesten Sinne politischen Verhandlungen. Kurzfristig kann ein Investitionsschub trotz Beschäftigungszuwachs über Inflation die Kaufkraft stagnieren lassen, deren Erhöhung in die nächsten Tarifverhandlungen verschoben wird.

Solange die reale Lohnrate nicht steigt, sinkt auch im Rahmen eines Ricardo'schen Verteilungsschemas die Profitrate nicht. 396 Ein Teil des von der Investitionswelle generierten Einkommens bleibt im Besitz der Unternehmerseite. Grundsätzlich kann ein Unternehmer seinen Gewinn alternativ zur Tilgung von Schulden, zur Bildung von Rücklagen oder zur Dividendenzahlung auf Aktien verwenden. Wenn die Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals weiterhin über dem erwarteten Marktzinsniveau liegt, mag der Unternehmensgewinn sogar zur Selbstfinanzierung weiterer Investitionsprojekte dienen. In allen Fällen bleibt der nicht verteilte Profit zunächst ohne Wirkung auf den Privatkonsum.

Notes
392.

Eucken [1954: 223-323].

393.

Ebd. 68 ff.

394.

Müller-Armack [1929: 656].

395.

Spiethoff [1925: 8; 24-25; 70-75]

396.

Unter Vernachlässigung einer Bodenrente.