1.1.5. Das Verhältnis der Investition zur Ersparnis

Der klassische Say’sche Lehrsatz unterstellt, dass sich der Unternehmer für eine Investition entscheiden kann, wenn Ersparnis vorhanden ist, wobei die Investitionsentscheidung kein Risiko trägt. Ersparnisbildung sei also Voraussetzung der Investition. Eigentlich entstammt dieser Zusammenhang der Grundidee, die sich die Klassiker vom Akt des Sparens machten. Laut den Vätern der Aufklärungsökonomie sammeln eher Kapitalisten als Arbeitnehmer Ersparnis an. Sie umfasst den gesellschaftlichen Überschuss, einmal dass alle Produktionsfaktoren bezahlt wurden. 398 Zwischen Ersparnis und Investition entscheidet allein der kapitalistische Unternehmer je nach Zinsniveau. 399

Die Gleichheit zwischen Investition und Ersparnis bleibt unbestreitbar. Per se entsprechen beide ökonomischen Größen jeweils dem nicht konsumierten Teil des Einkommens. Ob sie sich weitgehend in den Händen von Unternehmern befinden, gilt es im heutigen Wirtschaftssystem jedoch zu bezweifeln. Im Jahr 1999 betrug die Sparquote deutscher Privathaushalte 9,4% ihres verfügbaren Einkommens. Dies entsprach einem Sparvolumen von 118 Milliarden Euro oder über 90% der gesamten Sparkraft der deutschen Wirtschaft. 400 Diese Tatsache fundiert die keynesianische These, dass Ersparnis in erster Linie eine Funktion des Einkommens und der Konsumneigung ist. Anders als im klassischen Schema dargestellt, werden Investitions- und Sparentscheidung weder von den gleichen Wirtschaftsagenten getroffen, noch sind sie Funktion derselben Variablen.

Was außerdem als rechnerische Gleichheit übereinstimmt, sagt über den zeitlichen Ablauf des Ausgleichs wenig aus. Dafür sei kurz die Investitionsnachfrage skizziert: Keynes unterscheidet zwei Komponenten der Investitionsnachfrage eines Unternehmers. Der erste Teil betrifft die Erneuerung des veralteten Produktionsapparats, der über Bilanzabschreibungen und meistens durch Unternehmensersparnis selbstfinanziert wird. Diese Investitionsentscheidung hat eher buchhalterischen als ökonomischen Charakter. Anders verhält es sich mit der zweiten Komponente. Hier geht es um eine Netto-Erweiterung des Produktionsapparats. Die autonome Entscheidung hängt allein von den Gewinnerwartungen des Unternehmers im Falle einer solchen Maßnahme unter Berücksichtigung des Zinsniveaus ab. Gewinnerwartungen sind eine ökonomische Größe basierend auf der Einschätzung der künftigen Konjunkturlage. Für die Entscheidung zugunsten einer Nettoinvestition spielt die in der Volkwirtschaft vorhandene Ersparnis keine direkte Rolle. 401 Nettoinvestitionen brauchen keine Ersparnis als Vorbedingung. 402

Wenn Investition keine Ersparnis voraussetzt, beruht das Vorankommen der kapitalistischen Wirtschaft für Alfred Müller-Armack auf anderen Ursprüngen: „Der aktive kapitalistische Fortschritt finanziert sich nicht aus ersparten Konsumeinkommen, er zieht seine bewegende Kraft nicht aus den Resultaten seiner Vergangenheit, sondern aus der Gewinnchance der Zukunft.“ Wachstum entsteht ex improviso aus dem Eintritt neuen Geldkapitals in den Wirtschaftsprozess und damit korreliert aus einer „Umdisponierung des bisherigen Gütervorrats.“ Die Quelle der zusätzlichen Geldmittel sah Müller-Armack vor mehr als siebzig Jahren in der Geldinflation, im positiven Saldo des Außenhandels, in einer erhöhten Goldproduktion sowie im Bankkredit. 403 .

Da der Motor des Wirtschaftswachstums letztendlich die Gewinnerwartungen der Unternehmer sind, besteht immer das Risiko, dass sie sich nicht erfüllen. Investitionsentscheidungen unter Unsicherheit und ständige Faktorreallokation sorgen für eine hohe Veränderungsgeschwindigkeit des Wirtschaftsprozesses. Nicht nur er sondern auch die Wirtschaftsordnung, die wirtschaftlichen Strukturen prägen die stetig wiederkehrenden Investitionswellen. „Der Kapitalismus ist das Wirtschaftssystem in der Geschichte, in dem die Dynamik zum Strukturprinzip geworden ist.“ 404 Ihn kennzeichnet die Labilität seiner ganzen Marktordnung, gerade weil seinen Kern „die Schaffung einer rationalen Unternehmungsorganisation zum Zwecke dauernder Ermöglichung neuen technischen Fortschritts, die Befreiung des Marktes zum Zwecke seiner ausschließlichen Ausrichtung auf den wirtschaftlichen Fortschritt“ bildet. 405 Die Labilität ist mit der Verwirklichung eines Gleichgewichts in jeder Periode quasi unvereinbar. Der Wirtschaftsprozess im Kapitalismus ist aufgrund seiner Dynamik per se labil. Konjunkturelle Schwankungen als Ausdruck dessen stellen „Epiphänome“ der kapitalistischen Entwicklung dar. 406

Notes
398.

Guerrien [1996: 184].

399.

Ricardo [1812: 245-255].

400.

Deutsche Bundesbank [2001: 22*].

401.

Ein indirekter Zusammenhang besteht insofern, als Sparen in mehr oder weniger liquider Form erfolgen kann, was gegebenenfalls über die Geldmenge das Zinsniveau beeinflusst.

402.

Jarchow [1994: 193-214].

403.

Müller-Armack [1929: 654].

404.

Müller-Armack [1932: 28].

405.

Müller-Armack [1981: 100-101].

406.

Müller-Armack [1932: 19].