1.2.3. Monetäre Überinvestitionstheorie

Diese Lücken in Tugan-Baranowskis Darlegung schließen monetäre Überinvestitionstheorien. Solche Ansätze beruhen prinzipiell auf der Geldmengenlehre und erklären Konjunkturbewegungen von Anfang an durch eine Änderung der Geld- und Kreditverhältnisse. 417 Den Aufschwung kennzeichnet eine Steigerung der Geld- und Kreditmenge, eine Steigerung der Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes oder beides. Ihn begleitet Inflation, mit der Depression geht die Desinflation einher. Wichtig ist jedoch, dass Schwankungen nicht absolut am generellen Preisspiegel, sondern relativ an der Geld- und Kreditmenge gemessen werden. Veränderungen des allgemeinen Preisniveaus können durch reale Faktoren wie Produktivitätsgewinne und Lohnpolitik verursacht sein und sich mithin vom Konjunkturverlauf abkoppeln oder mit Verzögerung auftreten. Allein Veränderungen der Kreditmenge sind mit denen der Konjunktur identisch. Warum das Kreditvolumen steigt oder fällt hängt im Endeffekt von seinem Preis ab. Mit anderen Worten macht die monetäre Konjunkturtheorie den Zinssatz letztendlich zur alleinigen Ursache für Konjunkturbewegungen. 418

Überdies unterscheiden sich monetäre Krisentheorien von anderen endogenen Krisentheorien, indem sie von der langfristigen Geltung des Say'schen Theorems überzeugt sind. In einer Kreditwirtschaft fundiert das langfristige Verhältnis zwischen Konsum und Sparen die Existenz eines realen Gleichgewichts. Dieses Verhältnis wird durch das Niveau eines natürlichen Zinssatzes bestimmt. 419 Konjunkturelle Schwankungen verstehen sich im Grunde genommen als Abweichung der Wirtschaftsverhältnisse von ihrem langfristigen Gleichgewichtszustand. Herd der Gleichgewichtsstörung ist die sich öffnende Schere zwischen dem aktuellen realen Zinssatz und seinem langfristigen Niveau.

Die Basis der monetären Krisentheorie liefert der Schwede Knut Wicksell. Auf die klassische Darstellung zurückgreifend unterscheidet er zwischen einem natürlichen Preis und einem Marktpreis des Kapitals. Der natürliche Zinssatz entspricht dem Gleichgewichtspreis, der sich selbstständig bilden würde, wenn die Investitionsnachfrage mit dem Angebot an Ersparnis genau zur Deckung käme. Dagegen ist der Marktzins derjenige, zu dem sich eine Investition über den Kapital- und Kreditmarkt finanzieren lässt. Liegt der Marktzins unter dem natürlichen Zins, steigen die relativen Gewinnerwartungen des Unternehmers. Es entsteht eine höhere Nachfrage nach Produktionsmitteln und damit nach Krediten. Die Preise ziehen an, so dass die Wirtschaft schließlich unter genereller Inflation leidet. Da das Einkommen dem Preisauftrieb nicht schnell genug folgt, sinkt der Verbrauch. Wenn die Kreditschöpfungskraft der Banken dem stetig wachsenden Investitionsbedarf nicht mehr nachkommen kann, steigt der Marktzins über das natürliche Zinsniveau. Wegen höherer Produktionskosten in Kombination mit dem sinkenden Absatz verringern sich die Unternehmensgewinne. Der Aufschwung findet sein Ende, aber die via Kredit finanzierte Produktionserweiterung muss getilgt werden. Somit nimmt die Krise ihren Anfang.

Für das Auseinanderklaffen von Marktzins und natürlichem Zins macht Ludwig von Mises die Geschäftsbanken verantwortlich. Um neue Kunden zu gewinnen, weiten sie ihr Kreditangebot in der Weise aus, dass sie einen gemessen am Gleichgewichtspreis zu niedrigen Zinssatz verlangen. Dieses künstlich gehaltene Niveau führt zur Erweiterung der Produktionskapazitäten, so dass Investitionen weg von der effizienten Faktorallokation fehlgeleitet werden. Die künstlich ausgelöste Verlagerung lässt weniger Spielraum für die Konsumgüterindustrie. Investitionen verlängern den Produktionsprozess. Konsumferne Güter werden verstärkt hergestellt, was die relativen Preise für Konsumgüter erhöht. Dies verzehrt das durch den Aufschwung gestiegene Einkommen. Die Wirtschaft wurde umsonst ins Ungleichgewicht gebracht. Der Aufschwung endet in der Krise.

Neben von Mises betrachtet ebenfalls Friedrich von Hayek den Effekt einer durch Zinssenkung hervorgerufenen Kreditexpansion auf das langfristige reale Gleichgewicht der Wirtschaft. Von einem solchen startend bedeuten Investitionen zusätzliche Nachfrage für die Kapitalgüterindustrie, die sie zunächst durch erhöhte Kapazitätsauslastung und Einsatz von mehr Arbeitskraft bewältigt. Die relativen Verhältnisse der Produktionsstruktur geraten unter Spannung. Denn die zusätzlich benötigte Arbeitskraft wird aus der Konsumgüterindustrie abgeworben, wodurch es auch in dieser Branche zu Lohndruck nach oben kommt. Aufgrund besserer Verdienstperspektiven kehren die abgewanderten Arbeiter in einem zweiten Schritt aus der Kapitalgüterindustrie zurück in den Konsumgütersektor. Die vorherige Produktionsstruktur formt sich wieder bei nun höherem Lohn- und Preisniveau. Gestiegene Kosten lassen die via Zinssenkung bewirkten Produktionserweiterungen abbrechen. Wenn ferner der Zins sein Gleichgewichtsniveau wieder erreicht hat, weil die Banken keine Kredite mehr zu dem künstlich niedrig gehaltenen Satz vergeben wollen – z.B. weil die Zentralbank ihre Leitzinsen angehoben hat, um das Inflationspotenzial im Keim zu ersticken – bricht die Krise aus. Jeder zum Preis einer Störung der Gleichgewichtsverhältnisse erkaufte Aufschwung ist zum Scheitern verurteilt.

Nach Meinung des amerikanischen Ökonomen Irving Fischer schließlich bildet den Krisenherd das Zurückbleiben des Zinssatzes hinter dem Preisniveau. Auf Inflation folgt nicht unmittelbar ein Zinsanstieg. Unternehmer lassen sich von einer nominalen Steigerung ihrer Gewinne täuschen und erhöhen ihre Kreditnachfrage zur Erweiterung der Produktionskapazitäten. Wenn sich die Zunahme des Kreditvolumens auf den Zinsfuß ausgewirkt hat, stellen die Unternehmer ihren Fehler fest. Der Prozess mündet in einer Depression oder Krise. 420

Notes
417.

Geld ist hier als Bargeld definiert. Kreditgeld entspricht einem Überbau zum Bargeld. Es umfasst alle bargeldlosen Zahlungsformen – per Scheck, Überweisung, Giroverkehr oder Clearing. Sein Volumen hängt von der Bargeldbasis und den Liquiditätsreserven der Banken ab (Ebd. 83).

418.

Ebd. 82-87.

419.

Vor der Weltwirtschaftskrise war die Theorie Keynes' noch nicht abgeschlossen. Daher galt für die grundsätzlich auf dem Gedankengut der österreichischen Schule basierende monetäre Krisentheorie immer noch, dass sich Wirtschaftsagenten zwischen Konsum und Sparen anhand des Zinssatzes entscheiden [Hall: 1989].

420.

Zu den monetären Krisentheorien siehe Müller [1990: 29-37]; insbesondere zu Wicksell siehe Röpke [1932: 85-87].