1.2.6. Eine unabgeschlossene Lehre

Jeder der fünf erläuterten Theorietypen setzt den Akzent auf unterschiedliche Argumente je nach angenommenem grundsätzlichen Denkmodell. Krisenursachen meint man hier in der Wirtschaftsstruktur, da in ihrem Prozess, dort in beiden, sei es in realen und/oder in monetären Erscheinungen zu erkennen. Die Existenz eines Gleichgewichts wird teils akzeptiert, teils angefochten, so dass Konjunkturschwankungen entweder als anormale Abweichungen oder als natürliche Dynamik der kapitalistischen Wirtschaft erscheinen.

Diese Vielfalt soll jedoch nicht den Eindruck erwecken, dass die vorgebrachten Argumente einander ausschließen. Eine Überinvestition mündet beispielweise in einer Überproduktion. Jeder Lehrsatz leistet seinen Beitrag zur empirischen Erklärung von Konjunkturbewegungen und -krisen. Wie Müller-Armack vorschlägt, sollten die verschiedenen Elemente „dynamisch integriert“ werden, 425 damit eine allumfassende Konjunkturtheorie entsteht.

In der Tat fehlte den Konjunkturforschern der dreißiger Jahre noch immer eine solche Theorie. 426 Eine ausführliche Kritik vorhandener Krisenerklärungen findet sich bei Alfred Müller-Armack. Die Vision einer statischen Wirtschaft, für die konjunkturelle Aufs und Abs nur Abweichungen zum früheren Gleichgewichtsniveau bedeuten, passe letztendlich nicht zur kapitalistischen Dynamik einer sich stets neu kombinierenden Produktionsstruktur. Die Übereinstimmung von Produktion und Konsumtion sei niemals garantiert. Die zeitliche Verschiebung als Argument genereller Unterkonsumtion vernachlässige die Rolle des Kredits. Das Gesetz fallender Profitraten habe die Empirie widerlegt. Unterkonsumtion oder Überproduktion stellten in sich keine konstitutiven Fehler der kapitalistischen Wirtschaft dar. Außerdem laufe der Wirtschaftsprozess nicht zyklisch ab; die Depression setze nicht zwangsläufig als Konsequenz des Booms ein. Die Rückzahlung aufgenommener Kredite heiße nicht unmittelbar gezwungenes Sparen und Konsumverminderung (wie heutzutage viele Beispiele zeigen, kann Schuldentilgung durch neuen Kredit finanziert werden). Bei Depressionen handele es sich um zufällige Erscheinungen. Eine stetige Hochkonjunktur sei wiederum nicht gewährleistet. 427

Die Krisen- und Konjunkturtheorie der dreißiger Jahre entbehrte noch der keynesianischen Revolution. Mit dem Konzept der Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals vertiefte Keynes die Wicksell'sche Lehre und trug dadurch – neben den psychologischen Aspekten der Unternehmerwartungen – zum besseren Verständnis von Investitionsentscheidungen, i.e. des ganzen Wirtschaftszyklus bei. 428 Zudem ermöglichte sein Multiplikator, sich vom Gedanken der Ersparnis als vorgegebener Grenze für die Investitionen abzukoppeln.

Nach der Hyperinflation in den zwanziger und der Weltwirtschaftskrise in den dreißiger Jahren machte die Konjunkturtheorie demnach zwar erhebliche Fortschritte. Die oben dargelegten Krisentheorien bildeten jedoch den Wissensstand ab, der zur damaligen Bekämpfung dieser beiden Übel verfügbar war. Auf seiner Grundlage leisteten deutsche Nationalökonomen ihre Unterstützung, um die Krise in Deutschland während der drei ersten Dekaden des zwanzigsten Jahrhunderts zu lösen.

Notes
425.

Müller-Armack [1929: 649].

426.

Ebd. 645-648; Röpke [1932: 1-3]; Spiethoff [1925: 59-61].

427.

Müller-Armack [1929: 648-658].

428.

Rosier [1991: 39-40].