1.3.1. Zwischen Krisen- und Konjunkturtheorie: Zwei Grundvorstellungen

1.3.1.1. Statisch geschlossenes System versus dynamisch offenes System

Arthur Spiethoff und Wilhelm Röpke stimmen darin überein, das Konzept „Wirtschaftskrise“ für einen anormalen, kritischen Zustand des Wirtschaftsprozesses anzuwenden. Für den Ersten meint Krise „die Spanne Zeit, in der sich unter plötzlichen, heftigen Erscheinungen die Umwandlung eines krankhaften wirtschaftlichen Zustandes entscheidet.“ 434 Für den Zweiten ist sie eine „kurze Phase“, charakterisiert durch das „Nicht-mehr-Funktionieren“ der gesamten Wirtschaft. 435

Müller-Armack dagegen weigert sich, dem Konzept der Krise eine enge Definition zu geben. Indem sie „als auf äußere Bedingungen zurückführende Katastrophenerscheinung erkannt wird“, scheidet die Wirtschaftskrise – weil theoretisch irrelevant – aus der Analyse aus. Sie überlagert nur das wesentliche Phänomen, die Konjunktur. Müller-Armack zieht es vor, sich auf letzteren Begriff zu konzentrieren, den er definiert als „Abfolge der wechselnden Marktlagen, deren Feststellung durch laufende Beobachtung der Preis- und Mengenvariation geschieht“. 436 Spiethoff und Röpke können daher als Krisentheoretiker betrachtet werden, während Müller-Armack sich als Konjunkturtheoretiker verstanden haben mag.

Eine zweite Erkenntnis, die Röpke und Spiethoff von Müller-Armack trennen, ist das Postulat, dass die Konjunktur zyklisch verläuft und verschiedene Phasen kennt. Spiethoff zufolge schwankt die Tätigkeit wirtschaftlicher Kräfte zwischen Anspannung (Aufschwung) und Entspannung (Stockung, Depression). Der Aufschwung bringt ökonomischen sowie gesellschaftlichen Fortschritt. Die Stockung korrespondiert mit einer Bereinigung der Wirtschaft – eine Phase des Anpassens an neue Techniken, eine Periode der Änderung des Geistes und der Entstehung neuer Ideen. 437 An drei Konjunkturlinien lässt sich laut Röpke die Periodizität des Wirtschaftslebens festmachen. Die Bewegungen variieren in ihrer „Schwingungsdauer“, je nach der Zeitlänge bis sich die wirtschaftlichen Maßgrößen wieder auf einem historisch üblichen Niveau normalisieren. Sie variieren in ihrer „Intensität“, je nach dem Ausmaß der Veränderung der Maßgrößen, sowie in ihrer „Extensität“, je nach Anzahl der in Schwingung geratenen Komponenten. 438 Die Schwingungsdauer kann im Falle von „Saisonschwankungen“ kürzer als ein Jahr sein, wie in der Landwirtschaft und in saisonalen Industrien (Baugewerbe, Binnenschifffahrt, Lieferindustrie, etc.), oder bis zu 25 Jahren im Falle einer „säkularen Entwicklungstendenz“ betragen. Bei Saisonschwankungen kommen nur Produktions- und Konsumzahlen ins Schwingen, säkulare Entwicklungstendenzen betreffen extensiv alle Strukturen des Wirtschaftslebens: Technik, Verbrauchsgewohnheiten, Organisation der Volkswirtschaft, Bevölkerungszusammensetzung, Absatzrichtungen, Wirtschaftsgesinnung, politische, natürliche sowie soziale Umwelt. 439 Für noch wichtiger als den saisonalen und strukturellen Rhythmus hält Röpke aber den allgemeinen Konjunkturzyklus – den Zeitablauf, der Aufschwung und Depression miteinander verbindet. Er dauert nach Juglar etwa 80 Monate, nach Spiethoff für die deutsche Wirtschaft zwischen sechs und neun Jahren. 440

Müller-Armack erkennt hingegen keinen normalen Zustand des Wirtschaftsprozesses. Konjunkturelle Schwankungen seien aus der Idee eines Gleichgewichts heraus insofern nicht zu begreifen, als dieses ein sich über mehrere Zeitperioden wiederholendes Preis- bzw. Mengensystem, d.h. ein System der Statik, darstelle. Das Konjunkturkonzept erfasse im Gegenteil die stetige Veränderung der Faktorallokation, d.h. ein System der Dynamik. Letztere sei zum Wesen des kapitalistischen Systems geworden, seitdem das aus Gewinn akkumulierte Kapital die Wirtschaft unentwegt zwinge, neue Kaufkraft zu speisen. Naturbedingt befinde sich der Unternehmer stets auf der Suche nach außerordentlichen Profitchancen und versuche ständig, innovative Wege zu beschreiten. Wenn er hierzu diese zusätzliche Kaufkraft nutze, entstünden neue Aktivitäten, die ein ganz neues Preis- und Mengensystem schüfen und das Gesicht der Wirtschaft veränderten. Es existiere kein statisches Gleichgewicht mehr, sondern ein sich ständig wandelnder, expandierender oder schrumpfender Wirtschaftsprozess. Aus statischem Blickwinkel sei er nicht ausreichend zu analysieren. „Nur Sekundärbewegungen, nicht der Grundvorgang, läßt sich mit statischen Mitteln erklären“. 441 Den Grundvorgang der kapitalistischen Wirtschaft bilde die geschichtliche Kapitalakkumulation. Konjunkturbewegungen wie Aufschwung, Depression oder selbst Krisen hätten sekundären Charakter, sie liefen um diesen Vorgang herum ab. Darüber hinaus seien Konjunkturschwankungen keine Verschiebungen von einer Teilgröße des Prozesses in eine andere im Rahmen eines statischen Zusammenhangs. „Die Anstöße der Aufschwungbewegung sind nicht schon in der Situation der ihr vorhergehenden Periode enthalten. Sie stammen vielmehr aus einer Sphäre spontaner Entwicklungsfaktoren, für die sich keine immanente Notwendigkeit angeben lässt“. 442

Hinsichtlich des Denkens im statischen Gleichgewicht und im rein endogenen Konjunkturverlauf möchte Müller-Armack die Forschung von inadäquaten Entwicklungsvorstellungen befreien. In diesen zwei Punkten distanziert er sich von Spiethoff sowie Röpke. Sein Verständnis und das ihrige sind daher uneinheitlich, was die Funktion und Übergänge der verschiedenen Phasen eines Konjunkturzyklus betrifft. Bezüglich des mechanischen Aspekts der Konjunkturanalyse haben sie dagegen eine aufgeklärte Überinvestitionstheorie als gemeinsame Basis.

Notes
434.

Spiethoff [1925: 9].

435.

Röpke [1932: 1].

436.

Müller-Armack [1929: 646].

437.

Spiethoff [1925: 83].

438.

Röpke [1932: 4-6].

439.

Ebd. 6-9.

440.

Ebd. 9.

441.

Müller-Armack [1929: 649-650] Zitat S. 650.

442.

Müller-Armack [1932: 90].