2.2.2. Zur Weltwirtschaftskrise

2.2.2.1. Das Erklärungsschema von Wilhelm Röpke und Arthur Spiethoff

Anhand seiner Konjunkturtheorie bot Röpke schon im Jahre 1932 ein Erklärungsmuster für die Weltwirtschaftskrise. Ihr auslösendes Ereignis sieht er im schwarzen Donnerstag am 24. Oktober 1929 an der New Yorker Börse. Seines Erachtens findet die Krise in der Deflation, im Schrumpfen der Produktion weltweit und schließlich in abnehmenden Welthandel ihren Niederschlag. Die Verschlechterung auf dem Arbeitsmarkt entspricht für ihn dem Produktionsrückgang. Deutschland und die USA betrachtet er als Krisenzentren, wobei selbst „glückliche Konjunkturinseln“ des ersten Moments wie Frankreich im Nachhinein auch von der Kreditkrise 1931 getroffen worden seien. Nur Russland scheine aufgrund seines kollektivistischen Systems unberührt geblieben. 623

Intensität sowie Extensität, mit der die Weltwirtschaftskrise die deutsche Konjunktur heimsuchte, erklärt Röpke als einzigartiges Zusammentreffen verschiedenster Faktoren. Ihren Ursprung erkennt er in einer durch Kreditexpansion verursachten Überinvestition der vorangegangenen Hochkonjunktur. Als Hauptherd dieses ungesunden Wirtschaftswachstums verweist er auf die USA: Weil sie mit dem Krieg zum größten Gläubigerland der Welt wurden, begann dort eine Kreditausweitung, die sich über den ganzen Globus verbreitete. Doch die amerikanische Kreditexpansion wurde von den Währungspolitiken der französischen Notenbank und der Bank von England zur Wiederherstellung des Goldstandards unter Inkaufnahme hoher Kosten gestützt. Deutschland partizipierte an dieser Kreditausweitung durch Kapitaleinfuhr, was eine gewaltige Investitionswelle hervorrief. Der deutsche Kreditmarkt war aber dadurch gefährdet, dass immer mehr kurzfristige Auslandskredite aufgenommen wurden, da die Anleihepolitik von Reichsbankdirektor Hjalmar Schacht zur Verbesserung der Fristigkeitsstruktur der Reichsbank das Angebot an langfristigen Krediten überforderte. Das Motiv für die Investitionswelle in Deutschland will Röpke ausschließlich im Nachholbedarf nach dem Krieg sehen. „So steht also über der heutigen Weltwirtschaftskrise mit ihrem Elend und ihren Zerstörungen in jeder Beziehung der Schatten des Weltkrieges.“ Röpke hält die Große Depression wie die Hyperinflation der zwanziger Jahre für eine Kriegsfolge bzw. für eine „Fortsetzung des Dramas“, das 1914 anfing.

Das Ausmaß der Kreditexpansion allein hätte laut Röpke in Deutschland ohne weiteres zur Krise geführt. Jedoch weist er auf weitere Faktoren hin, die die Intensität der Notlage verschärften. So nennt er Liquiditätsschwierigkeiten bei den Banken, welche zur Lähmung des Bankensystems und zur Devisenkrise beitrugen. Deutschlands Staatsverschuldung, Reparationen sowie Schulden der Alliierten untereinander hätten die natürlichen internationalen Kapitalbewegungen gestört. Auch erachtet Röpke parteiische Voreingenommenheit, den Wahlausgang im Herbst 1930 und die allgemeine „Radikalisierung der Massen“ als gravierende Einflüsse sowie schließlich die Agrarkrise inklusive dem schädlichen Staatseingriff zu ihrer Bekämpfung. 624

Arthur Spiethoff nahm zur Weltwirtschaftskrise unmittelbar nach der Kreditkrise des Sommers öffentlich Stellung, indem er in der Leipziger Illustrierten Zeitung vom 15. Oktober 1931 „Unsere Wirtschaftslage im Lichte der Geschichte“ erkundete. Dabei fragte er sich ganz in der Tradition der historischen Schule, so sein Untertitel des Artikels: „Was können wir aus der Vergangenheit für die gegenwärtige Krise lernen? 625

Auf diese Frage hin diagnostiziert er den Ausnahmefall: „Die seit 1929 auf der Weltwirtschaft lastende Stockung erhält ihre geschichtliche Eigenart durch eine ungewöhnliche Häufung von Verwicklungen, die abseits des gewöhnlichen Verlaufs der wirtschaftlichen Wechsellagen: Aufschwung und Stockung, liegen.“ Sein Urteil begründet er dadurch, dass sich die Wirtschaft seit den zwanziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts in einem Kreislauf, dessen Dauer er empirisch auf 7 bis 11 Jahre bemisst. Nach dem Krieg habe sich dieser Zyklus auf 4 Jahre verkürzt. Spiethoff identifiziert vier Verwicklungen, die er für die aktuelle einmalige Störung verantwortlich macht. Als Erstes nennt er den Weltkrieg sowie die Friedensschlüsse.

Die zweite Verwicklung bestehe in weltweiten „landwirtschaftlichen Umwälzungen.“ Ihr Auftreten korreliere historisch gesehen immer mit großen Kriegen und Stockungsperioden. Die gegenwärtige Umwälzung beruhe auf technischem Fortschritt in der landwirtschaftlichen Produktion. Einerseits führten Produktivitätsgewinne zu weltweite Überproduktion an Agrargütern. Anderseits erfolge in Agrarstaaten eine Reallokation von Kapital zugunsten des heimischen Gewerbesektors. Die zunehmende Industrialisierung von Agrarländern bewirke ferner eine Verschiebung der traditionellen internationalen Arbeitsteilung, die nun den Export industrieller Produkte aus Großgewerbestaaten erschwere. Im Wesentlichen herrsche in den Agrarländern eine Übererzeugung an landwirtschaftlichen Gütern und in den Industrieländern eine Überproduktion gewerblicher Waren. Die Labilität des Angebots sei in Deutschland insofern verstärkt, als die Ausfuhr von den Handelspartnern stets in beträchtlichem Umfang mit Wertpapieren oder Schuldverschreibungen bezahlt, d.h. per deutscher Kreditvergabe an das Ausland finanziert wurde: „Die gewerbliche Ausfuhr [...] ist immer in ganz großem Ausmaß Kapitalausfuhr gewesen“.

Drittens führt Spiethoff die Übererzeugung in den Großgewerbestaaten auf eine Überspekulation zurück, die Kapital und Arbeit fehlgeleitet habe. Er zeigt auf, in welchen Branchen diese Überspekulation einsetzte und wie sie sich in anderen Sektoren ausbreitete, aber nicht warum sie stattfand.

Viertens verweist er auf Lohn- und Steuerpolitik. Sie sei sowohl für die Härte als auch Länge der Krise in Deutschland sehr wohl verantwortlich, da sie durch hohen Bedarf an Schuldenrück- und Zinszahlungen den inländischen Kapitalmarkt belastet und damit verhindere, dass sich während der Stockungsphase freies Kapital neu bilde. Wegen der Lage am Kapitalmarkt sei die deutsche Wirtschaft aus der normalen Bahn von Stockungserscheinungen geworfen. Dank dieser Analyse kommt Spiethoff zu dem bitteren Schluss, dass die vorliegende Krise womöglich kein Ende finden werde: „Die Frage nach der Überwindung früherer Stockungen findet ihre Antwort in der Erscheinung, daß die Stockungen bisher in Aufschwünge eingebettet waren und durch diese überwunden wurden. Es ist eine geschichtliche Tatsache, daß jeder Stockung ein Aufschwung gefolgt ist; aber das war keine Notwendigkeit und es muß in der Zukunft nicht sein. Es ist möglich, daß wir den letzten Aufschwung erlebt haben.“ Vielleicht sei die Weltwirtschaft schon auf eine neue Entwicklungsstufe übergegangen, wo das Wirtschaftsleben nicht mehr in Wechsellagen ablaufe, wie Spiethoff an anderer Stelle prophezeit hatte. 626

Alles in allem lautet Spiethoffs Diagnose der Weltwirtschaftskrise: Kapitalmangel. Somit steht seine Analyse mit jener von Röpke im Einklang. Was hat ihn dabei aber die Geschichte gelehrt? Ihr entnimmt Spiethoff, dass die Übererzeugung im landwirtschaftlichen Sektor historisch eine Begleiterscheinung größerer Kriege ist. Des Weiteren schlussfolgert er: „Der Eintritt in eine Zeitspanne landwirtschaftlicher Übererzeugung mit Niedergang der Preise weist auf eine Stockungsspanne hin, d.h. auf lange, schwere Stockungen und kurze, schwache Aufschwünge.“ Auch lässt ihn die Geschichte urteilen: „Der jetzt abgelaufene Aufschwung war aber kein ganz echter, sondern ein lahmer, und er ist deshalb in seiner Voraussagebedeutung nicht voll zu werten“. 627 Angesichts des sozialen Elends kann eine solch fatalistische Diagnose verfasst von einem Gründer der Konjunkturtheorie in Deutschland entmutigend wirken und insofern als unbefriedigend empfunden werden. Zwar lehrt ihn die Geschichte des Konjunkturzyklus, dass weder Kriege noch Wirtschaftspolitik das Wirtschaftsleben jemals nachhaltig aus seiner Bahn brachten. Jedoch erweisen sie sich in Spiethoffs empirischer Analyse der Lage in Deutschland als die beiden wichtigsten unter den vier Verwicklungen, um Härte und Länge der herrschenden Stockung zu erklären. Daher zieht er den Schluss, man habe mit der Weltwirtschaftskrise eine historische Neuheit vor Augen.

Notes
623.

Röpke [1932: 44-48].

624.

Ebd. 92-94.

625.

Dieser Zeitungsartikel Spiethoffs wurde in der Auflage von 1955 seiner Wirtschaftlichen Wechsellagen bei J.C.B. Mohr unter den Absatztiteln „Die deutsche Wirtschaftsstockung 1929 und die Kreditklemme 1931“ (Seiten 139 bis 145) neu gedruckt.

626.

Spiethoff [1955: 139-143] Zitat S.143.

627.

Ebd. 145.