1. Walter Euckens wissenschaftliche Lebensaufgabe

Insbesondere durch die Initiative von Adolf Weber (1876-1963) wurden in Deutschland nach der Schmoller/Menger-Debatte die „Aufgaben der Volkswirtschaftslehre als Wissenschaft“ neu untersucht. Weil die vorherrschende Nationalökonomie deutscher Prägung während der Hyperinflation und der Weltwirtschaftskrise an ihrer wirtschaftspolitischen Aufgabe gescheitert war, weil sie nichts weiter als inhaltslose Kontroversen zu bringen schien, fragte sich Walter Eucken als Anhänger von Webers Ideen: „Ist es nicht zwecklos einer solchen Wissenschaft zu vertrauen? [...] Wozu also Nationalökonomie? 660 In seinen zwei Artikeln – „Kritische Betrachtungen zum deutschen Geldproblem“ erschienen 1923 und „Staatliche Strukturwandlungen und Krisis des Kapitalismus“ 1932 veröffentlicht – hatte er selbst die Erfahrung gemacht, dass die damaligen Wirtschaftsprobleme der Kraft einer wissenschaftlichen Antwort bedurften. Viel zu große Gefahren für die Gesellschaft erwüchsen aus der „Ideologie geschlossener Gruppen“ oder aus subjektiven und „zersplitterten Meinungen der Einzelnen.“ Hier dachte Eucken etwa an Forderungen zahlreicher Unternehmer nach freigiebiger Kreditgewährung der Reichsbank, um die Depression von 1923 zu bekämpfen, ohne zu berücksichtigen, dass eine solche Maßnahme das noch schlimmere Risiko von Inflation bergen könnte. Fraglich blieb für Eucken ebenso der wissenschaftliche Spagat, den die alte historische Schule vollführte, um sowohl Wettbewerb als auch Kartelle für wünschenswert zu erklären. 661 Desgleichen sei Röpkes Stellung zum Staatsinterventionismus nicht klar formuliert. 662 Eucken glaubte, sich gegen solche „Meinungen“ wehren und eine neue Lehre gründen zu müssen, die sich – von Kant inspiriert – als „Organ der Weisheit“ verstanden wissen wollte. 663

Pragmatisch müsse die Nationalökonomie Lösungen für Probleme vorschlagen, die jedermanns Existenz berührten. Ihre Fragestellungen sollten von der Wirklichkeit ausgehen. So beginnt das methodische Buch Euckens über nationalökonomische Grundlagen mit derselben Beobachtung, die Descartes zu großem philosophischem Zweifeln führte. „Ich stehe vor dem Ofen, der mein Zimmer heizt. Ein durchaus gewöhnlicher Ofen. Und doch genügt sein Anblick, um die wichtigsten Fragen zu entzünden.“ Letztere sind für den Nationalökonomen allerdings nicht gleich denen des Philosophen. „Warum wurde er gerade in diesem Zimmer gebaut? [...] Wir wissen aus der Alltagserfahrung, dass die verschiedenartigsten, gesonderten Leistungen ineinandergriffen, um diesen einen Ofen zu schaffen.[...] Die Zahl der Mitwirkenden ist fast unübersehbar. [...] Wie wurde dafür gesorgt, dass alle diese Leistungen ineinandergriffen und sich alle auf die Herstellung des Ofens ausrichteten? [...] Wie erfolgt die Lenkung dieses gewaltigen arbeitsteiligen Gesamtzusammenhanges, von dem die Versorgung jedes Menschen mit Gütern, also jedes Menschen Existenz, abhängt? Dieses Ganze muss Ich in seinen Zusammenhängen kennen, um auch nur die Produktion des einen Ofens und die Heizung meines Zimmers im Winter zu verstehen.“ 664

Idealistisch zweifelt die Wirtschaftswissenschaft Walter Euckens nicht an ihren Fähigkeiten, zur „absoluten Wahrheit“ zu gelangen. Dies sei nur eine Methodenangelegenheit. Die Beziehung von Eucken zum Wahrheitsbegriff kommt sodann dem Kant'schen Idealismus sehr nahe. 665 Hier kann man, wie François Bilger, das starke philosophische Erbe nicht oft genug unterstreichen, das Rudolf Eucken seinem Sohn hinterließ. Ersterer wurde als Professor für Philosophie 1908 mit dem Literaturnobelpreis für seine theoretische Weiterentwicklung der Kant'schen Ethik ausgezeichnet. 666

Elitär zieht Walter Euckens Wissenschaft eine Grenze zwischen einerseits nicht objektiven Kenntnissen sowie parteiischen Meinungen, die in der Gesellschaft kursieren, und andererseits dem Wissen, das aufklären soll, um die Gemeinschaft und ihre Mitglieder vor falschem Verhalten oder gefährlichen Tendenzen zu schützen. 667 Dadurch legitimerweise ehrgeizig, erhält die Nationalökonomie allein den sozialen Fortschritt als Aufgabe. Eucken fasst die Nationalökonomie als „ordnende Kraft“ der Gesellschaft auf. 668 Aus diesem Grunde müsse sie kompromisslos sein und den unhaltbaren Zustand nach dem ersten Methodenstreit überwinden.

Notes
660.

Eucken [1938a: 8].

661.

Siehe Teil 1 dieser Arbeit.

662.

Siehe Teil 2 dieser Arbeit.

663.

Eucken [1940: 11]; Eucken [1938a: 67].

664.

Eucken [1940: 2].

665.

Zur Darstellung des Kant'schen Wahrheitsbegriffs, siehe Cassel [1968: 23-28].

666.

Bilger [1960: 140].

667.

Elitäre Denkweise ist ein Kennzeichen von Walter Euckens Werken. Da nur der Wissenschaftler zur Wahrheit gelangen kann, wird er als Deus ex machina dargestellt. Der Nationalökonom ist demzufolge befugt, eine Wirtschaftspolitik wie Gesetzestafeln zu schreiben. An diesem Punkt lässt sich auch ermessen, welches Leid der von Kants liberaler Philosophie geprägte Wissenschaftler Walter Eucken unter der nationalsozialistischen Diktatur erfahren musste.

668.

Eucken [1952: 340-347].