Die künftige Systemanalyse Euckens wird nicht holistisch sein. Zwar lehnt er es ab, den Reichtum einer Nation als bloße Summe der individuellen Faktoren anzusehen. Vielmehr gehe Ersterer über Letztere hinaus. Damit zeigt Eucken, dass er die frühere deutsche Kritik an der Lehre von Adam Smith verinnerlicht hat (siehe Teil I). Aber dieses Axiom reicht nicht aus, um die Ordnungstheorie in das holistische Paradigma einzuordnen, wie etwa J.D. Weisz es tut. 685 Im Gegenteil: Die Ordnungstheorie erweist sich durch und durch als individualistisch. Ihre Problemstellung – die optimale Faktorallokation unter dem Zustand von Knappheit in unterschiedlichen Gesellschaftsformen zu erreichen – betrifft den für Faktorallokation zuständigen Entscheidungsträger und die gesellschaftliche bzw. institutionelle Kontrolle dieser Entscheidung. Dabei kann ein Individuum, ein Unternehmen oder ein ganzer Staat im Falle einer zentralistischen Wirtschaft Entscheidungsträger sein. Die in der Ordnungstheorie analysierten organischen sowie pragmatischen Institutionen dienen dem Verständnis individueller Entscheidungen bzw. der Suche nach jener optimalen institutionellen Konstellation, die bei Befolgung des „wirtschaftliche Prinzips“ das beste Ergebnis ermöglicht. 686
Was das Verhältnis zwischen Individuum und Institution angeht, steht Eucken Mengers Auffassung – derzufolge die individuellen Bedürfnisse Vektor der Entstehung sowie Entwicklung gesellschaftlicher Institutionen und die Institutionen wiederum Träger der individuellen Handlungen sind 687 – etwas näher als dem Verständnis von List oder den Kameralisten – demgemäss gesellschaftliche Institutionen als Katalysator für die individuellen Produktivkräfte dienen, ohne dass eine Rückkopplung vom Individuum auf die Institutionen erfolgt. Außerdem spielen Institutionen in Euckens Theorie nur die Rolle exogener Variablen. Sie werden in den „Datenkranz“ zurückgedrängt und gelten nicht als primäres Untersuchungsobjekt wie bei List oder Schmoller. 688 Im Falle des Idealtyps der zentral geleiteten Planwirtschaft wird der Zentralstaat als individueller Agent betrachtet. 689 Selbst wenn man nicht aus den Augen verlieren darf, dass ein Wirtschaftssystem ein „reales Ganzes“ ist (um hier das Konzept von Schmoller noch einmal heranzuziehen), bestätigt Eucken ansonsten die Notwendigkeit einer Systemanalyse, die auf den Wirtschaftseinheiten beruht. 690 Alles in allem lassen sich zwischen Euckens Ordnungstheorie und den einzelnen historischen Schulen in diesem Punkt ähnliche Unterschiede identifizieren, wie sie Spezialisten gemeinhin zwischen dem alten amerikanischen Institutionalismus von Commons sowie Veblen und dem Neoinstitutionalismus – etwa von Oliver Williamson – feststellen. 691 Genauso wie der Neoinstitutionalismus bricht die Ordnungstheorie mit dem neoklassischen Paradigma nicht drastisch genug, um sich vom methodologischen Individualismus loszusagen. In der Absicht, sie von der Arbeit Veblens oder Commons abzugrenzen, bezeichnet François Bilger die Theorie Euckens sogar schon als „Neoinstitutionalismus.“ 692
Weisz [2001: 129-156].
Unter dem „wirtschaftlichen Prinzip“ versteht Eucken ein ökonomisch rationales Verhalten des Wirtschaftsagenten, demzufolge er die Befriedigung seiner Bedürfnisse unter minimalem Ressourceneinsatz zu maximieren sucht. Je nach Erkenntnisstand des Agenten lässt sich das Prinzip „objektiv“ oder nur „subjektiv“ verwirklichen. Sein Bestreben kann entweder die Deckung konstanter Bedürfnisse oder Gewinnmaximierung sein. Die unterschiedlichen Bestrebungen werden von den herrschenden gesellschaftlichen Institutionen beeinflusst: Eine freie Marktwirtschaft begünstigt die Gewinnmaximierung und zwingt den Agenten zu objektivem Verhalten. Eucken [1940: 211].
Dazu Garrouste [1994] sowie Vanberg [1988: 17-31].
Eucken [1940: 156].
Ebd.:127-141; Hensel [1972: 121-134].
Eucken [1940: 142-143].
Dutraive [1992:14-15].
Bilger [1960: 117]. Interessant ist zu bemerken, dass François Bilger den Begriff des Neoinstitutionalismus als Synthese zwischen Institutionalismus und neoklassischer Theorie vor über vierzig Jahren prägte und auf Eucken anwendete, während sich das Konzept erst später als Oberbegriff für die amerikanischen Forschungsbeiträge über Eigentumsrechte von Demsetz 1967, über Transaktionskosten von Williamson 1975 sowie über Public Choice von Olson 1982 etablierte (Rutherford [1994: 2-3]).