1.3.2. Husserl oder Kant?

Das Phänomen – die empirische Gesamterscheinung – zum Ausgangspunkt seines methodischen Ansatzes zu machen, sichert Walter Eucken in der Fachliteratur einen Platz neben der Phänomenologie eines Edmund Husserl (1859-1938). Eucken wird von Carsten Herrmann-Pillath aus vier Gründen als Phänomenologe angesehen: Er mache die Alltagserfahrung und nicht Begriffe zur Basis der Erkenntnis; er sei gegen wirklichkeitsfremde Theorien; er wolle seine Wissenschaft als besondere Sicht der Realität anstatt als Abstraktion konstruieren; viertens könne er doch nicht auf Theoreme verzichten. 703 Anekdotischerweise gewinnt die Beziehung von Eucken zu Husserl noch an Deutlichkeit, wenn man sich die Freundschaft der beiden großen Denker und ihre Nachbarschaft in Freiburg vor Augen hält. Des Weiteren erinnert Rainer Klump an die engen Beziehungen von Walter Euckens Familie über seinen Vater Rudolf Eucken – wie erwähnt Literatur-Nobelpreisträger 1908 und Philosophieprofessor – sowie über seine Frau Edith Eucken-Erdsieck zur Phänomenologie Husserl. 704

Ob Eucken als Phänomenologe einzuordnen ist, soll dem kompetenten Urteil von Carsten Herrmann-Pillath überlassen werden. Allerdings darf nicht in Vergessenheit geraten, dass Kant vor Husserl das Konzept des Phänomens in seinem empirischen Sinne definierte, und dass Eucken über seinen Kontakt mit Husserl hinaus die Kant'sche Philosophie seines Vaters zuvor verinnerlich hatte. Auf jeden Fall sind in diesem Umkreis von Kant und Husserl die Ideen angesiedelt, die Euckens Konzeption um das Wirtschaftsphänomen herum beeinflusst haben.

Da er den „Konflikt zwischen Kontingenzdenken und theoretischem Absolutheitsanspruch“ lösen möchte, stellt sich Eucken in der Tat dasselbe Problem wie einst Kant bei seiner transzendentalen Analyse der Prinzipien. 705 Die Schwierigkeit liegt in der Suche nach absoluter Wahrheit, die einerseits nicht ausschließlich auf (rationaler) Vernunft basieren kann, jedoch mit ihr vorgehen muss, und andererseits von der sinnlichen, unmittelbaren „Alltagserfahrung“ ausgehen soll, allerdings auch nicht allein auf ihr beruhen kann. Kant hatte schon gelehrt, dass alle Wahrheit aus unserer Sinneswahrnehmung des Realen entstehe, ohne aus dieser unmittelbaren Erfahrung hergeleitet zu sein. Nur der Rückgriff auf die Vernunft ermögliche es, den Fakten einen Sinn zu geben. Die Erfahrung sei eine notwendige aber keine hinreichende Bedingung, um zur Wahrheit zu gelangen. Kant versucht in seiner Prinzipienanalyse, eine Verbindung zwischen Sensibilität – welche die ältere historische Schule als Beobachtung bezeichnen würde – und Vernunft – welche Menger unter rationalem Denken verstanden hätte – herzustellen. Indem er nach dieser Verbindung sucht, formuliert Kant vielleicht schon die „große Antinomie“ der Erkenntnis. Um sie zu überwinden, glaubt er, ein „synthetisches Urteil a priori“ zu brauchen, d.h. „die Möglichkeit von Aussagen, deren Wahrheit unmittelbar einsichtig sein sollte, die aber gleichwohl weder logisch zu beweisen sein dürfen noch irgendwelche Erfahrung in sich aufnehmen dürfen.“ 706 Obwohl Eucken jedem a priori Urteil gegenüber skeptisch ist, da bei dessen Formulierung das Entgleisungsrisiko hoch sei, kann er nicht ohne auskommen: Der „Wirtschaftsplan“ wird – wie sich später zeigt – synthetisch und a priori als Prinzip sämtlichen Wirtschaftens gesehen und damit von Eucken zum archimedischen Prinzip seiner künftigen Wirtschaftssystemtheorie gemacht. Wenn Herrmann-Pillath urteilt: „Euckens Methodologie ist der Versuch angewandter Phänomenologie.“ 707 Dann kann man den Ansatz von Eucken sicher auch als angewandte Kant’sche Analyse betrachten.

Notes
703.

Herrmann-Pillath [1991:18-23].

704.

Klump [2003: 155-156].

705.

Bréhier [1962: 532-535].

706.

Cassel [1968: 25].

707.

Herrmann-Pillath [1991: 18].