2.2. Das Postulat der „Interdependenz der Ordnungen“: Treue zur historischen Schule und Abschied von Smith

Neben der Knappheitsüberwindung stellt sich nach Euckens Meinung bedingt durch die Industrialisierung ein weiteres Problem: dasjenige von Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Lebenssphären menschlicher Gesellschaften, i.e. die „Interdependenz der Ordnungen.“ 753 Hierbei denkt Eucken besonders an die Auswirkungen der Industrialisierung – also eines rein wirtschaftlichen Vorgangs bestehend in einer Veränderung der Produktionsmethode – auf das Gefüge traditioneller sozialer Gruppen sowie auf die Bevölkerungskonzentration in den Städten. Durch Ausdehnung der kapitalistischen Industrie und mit der Entstehung monopolistischer Marktformen entwickeln sich neue Sozialschichten, verschwinden alte Berufe, tauchen neue Innungen auf, andere gehen unter, wandelt sich das Familienleben, etc.. 754 Die gesellschaftliche Entwicklung hänge mehr oder weniger vom säkularen Wirtschaftslauf ab. Die Wirtschaftsordnung übe einen direkten Einfluss auf die anderen Gesellschaftsordnungen aus. Vektor des Einflusses sei das „Wirtschaftshandeln“, das ökonomische Verhalten jedes Einzelnen, welches zur allgemeinen „Daseinsgestaltung“ des Menschen auch in psychologischer, familiärer, kultureller und politischer Hinsicht beitrage. 755

Darüber hinaus verlaufe die Beziehung zwischen Wirtschaft und Gesellschaft nicht nur in eine Richtung. Die Formen der Wirtschaftsordnung würden auch von den anderen Gesellschaftssphären geprägt: „Nicht also eine einseitige Abhängigkeit der übrigen Ordnungen von der Wirtschaftsordnung besteht, sondern eine gegenseitige Abhängigkeit, eine „Interdependenz der Ordnungen“.“ 756 Die Rechts-, Sozial-, Wirtschafts- oder politische Ordnung unterstehen hierarchisch keiner besonderen Ordnung, sondern befinden sich alle auf gleichem Niveau.

Mit den interdependenten Ordnungen nähert sich Walter Eucken noch einmal dem klassischenÖkonomen Adam Smith an, der in seiner „Theoretical History“ ausführt: „(a) The mode of subsistence that unites men into collective social existence determines the nature of the society with its particular structure of property, and correlated social 'orders' and 'classes'. (b) There is a close relation between the type of property relations established and the juridical and political system that supports it. (c) The society has continuously advanced through successive stages, the transition arising through changes in conditions of production and exchange.“ 757 Die Idee der Interdependenz von Ordnungen ist in den ersten zwei Aussagen der „Theoretical History“ enthalten. Dagegen erweist sich die dritte Behauptung nicht als kompatibel mit Euckens Entwicklungslehre. Hier trennt sich sein Weg von Smith sowie von Lists Theorie der Entwicklungsstadien – dazu später mehr.

Ohne dass folgender Aspekt ausdrücklich analysiert wird, befindet sich im Zentrum der Ordnungstheorie das Menschenbild eines in der Gesellschaft handelnden Wesens, um seine Bedürfnisse – soweit sie mit der Gesellschaftsordnung vereinbar bleiben – zu befriedigen. Menschliche Handlungen und Entscheidungen schaffen demnach stetig eine Balance zwischen den Geboten und Regeln der verschiedenen Ordnungen einerseits sowie den individuellen Bedürfnissen andererseits. Dies bedeutet, dass die Wirtschaftskoordinierung weit über den technisch-materiellen Bereich hinausgeht und eine rechtlich-sittliche Seite einschließt, was den großen Unterschied zur Konzeption des Individuums von Smith ausmacht.

Der Schotte glaubt in seiner „Theory of moral sentiments“ an eine „harmony naturally arising from the way men were constituted mentally, or from an innate tendency toward balance among the moral sentiments.“ 758 Wenn diese Harmonie eine Naturgabe ist, braucht das Individuum keine Balance zwischen seinen wirtschaftlichen Bedürfnissen und den gesellschaftlichen Anforderungen herzustellen.

Was die Beziehungen zwischen wirtschaftlichem Gleichgewicht und menschlichem Verhalten betrifft, denken Smith und Eucken in umgekehrter Richtung. Bei Ersterem entsteht der Gleichgewichtsbegriff aus seiner „Theory of moral Sentiments“ heraus (veröffentlicht 1759) und verwirklicht sich in „Wealth of Nations“ (1776). 759 Chronologisch geht Smith von einer Definition der sozialen Harmonie über zur Frage „de la nature des fonds ou capitaux, de leur accumulation et de leur emploi.“Demgegenüber stellt sich Eucken erst die Frage wirtschaftlicher Kapitalbildung und gelangt dann zur sozialpolitischen Problemstellung. 760 Infolgedessen ist bei Smith ein logischer Aufbau, eine gewisse Kontinuität zwischen seinem Bild des Individuums und dem Vorgang wirtschaftlicher Koordinierung nachvollziehbar. Eucken Betreffend muss man wie Manfred Streit leider feststellen, dass die Interdependenz der Ordnungen lediglich einem Postulat entspricht. Sie sei dank zahlreicher historischer Beispiele belegt. Selbst wenn jene Beispiele – wie etwa die sozialen Konsequenzen der Industrialisierung – einleuchtend wirkten, bleibe die Interdependenz aber nur ein empirisches Gesetz. 761

Daran zeigt sich, wie tiefgreifend Eucken bestimmte Thesen der historischen Schule akzeptiert, ohne sie auf den Prüfstand zu stellen. Mit seinem Konzept der interdependenten Ordnungen gelingt ihm die beabsichtigte Überwindung des Historismus nicht.

Notes
753.

Eucken [1952: 15].

754.

Eucken [1948: 70-71].

755.

Hensel [1972: 15].

756.

Eucken [1948:72].

757.

Bharadwaj [1991: 16].

758.

Myers [1976: 408].

759.

Ebd.: 407-408.

760.

Fehl [1989: 82]. Der Autor bemerkt außerdem sehr geschickt, dass Hayek denselben intellektuellen Kurs wie Eucken einschlug. Leider verhinderte der plötzliche Tod von Walter Eucken zu beurteilen, bis zu welchem Grad beide Wissenschaftler hätten konvergieren können.

761.

Streit [1992: 692].