3.3. Vom Wirtschaftssystem zur Wirtschaftsordnung

3.3.1. Idealtyp und Realtyp

Die Wirtschaftssysteme beschreiben bei Eucken Idealtypen, womit die Verbindung zur berühmten Arbeit von Max Weber auf der Hand liegt. Allgemein bekannt, betrachtete er – ähnlich wie später Eucken mit der „großen Antinomie“ oder Hayek mit den „komplexen Phänomenen“ – Sozialphänomene getrennt von ihren individuellen Erscheinungen in generalisierbaren Zügen: Idealtypen. Des Weiteren lehrte Max Weber ab 1894 als Professor an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Universität Freiburg, während Eucken 1927 an dieselbe Fakultät kam. Dennoch so Eucken: „Was Weber zur Idealtypenbildung sagt, ist nicht nur Torso, sondern enthält auch schwere Mängel. Er erkannte weder den fundamentalen Unterschied von Realtypen und Idealtypen, noch den logischen Charakter von beiden, noch die Verschiedenheit der Abstraktionsverfahren, die zur Bildung der beiden Typen führen.“ 817

In der vorliegenden Dissertation soll die Beziehung zwischen Walter Eucken und Max Weber nicht ausführlich beleuchtet werden. Ein solches Vorhaben wäre zwar hochinteressant, würde jedoch zu weit vom eigentlichen Ziel wegführen, Euckens Theorie im Lichte der deutschsprachigen Wirtschaftstheorie – insbesondere der historischen Schule der Nationalökonomie – sowie des Wirtschaftsgeschehens in Deutschland zwischen den beiden Weltkriegen zu erklären und ihre heutige Relevanz bzw. Aussagekraft zu beurteilen. Da die Theorie von Eucken auf der Unterscheidung zwischen Ideal- und Realtyp aufbaut und er sich vom Konzept Webers vehement distanziert, ist es allerdings notwendig, die Unterschiede zwischen den beiden Wissenschaftlern zu schildern. Außerdem gilt es zu erläutern, wie Ideal- und Realtyp bei Eucken miteinander im Zusammenhang stehen.

Webers Idealtyp ist eine Heuristik, die dazu dient, Sozialphänomene verständlich zu machen. Er spiegelt nicht die Realität wider, sondern liefert ein Abbild der Wirklichkeit, das zum Zweck hat, ihre eigentlichen Züge zu stilisieren, ungefähr wie eine Karikatur. Diese Karikatur soll so skizziert werden, dass man sie in anderen Sozialphänomenen in mehr oder weniger ausgeprägter Form wiederentdecken kann. Beispielsweise ist der Kapitalismus bei Weber ein Idealtyp, dessen Bild sich aus den folgenden Zügen zusammensetzt: Privateigentum von materiellen Produktionsmitteln und ihre freie Nutzung durch rein gewinnorientierte Unternehmen, Marktfreiheit, rationelle Technik der Produktions- und Transportmittel, rationales Staatsrecht, freies Arbeitsrecht, eine marktwirtschaftliche Verfassung sowie Spekulation. 818 Wie man sieht, enthält Webers Idealtyp weder theoretische Elemente noch hat er ein normativen Charakter. Im Grunde kommt diese Konzeption den Wirtschaftsstufen oder -stilen der historischen Schule recht nahe. Sombart erkennt den Kapitalismus auch als „Wirtschaftssystem“.

Anders bei Eucken, dessen Konzeption des Idealtyps drei zentrale Unterschiede aufweist und relativ deutlich von seinem Vater mitgeprägt ist, da sie den Begriff des Typus hauptsächlich auf die aristotelische Lehre zurückführt. 819 Rainer Klump erinnert daran, dass Sohn Walter mit seinem Vater Rudolf sich täglich vor dem Frühstück in der deutschen Übersetzung von Aristoteles übte. 820

[1] Ein Idealtyp ist für Eucken zwar auch eine Heuristik, die zur Zerlegung der Wirklichkeit in verschiedene Wesenszüge dient; eine notwendige Heuristik, um das Problem der großen Antinomie zu lösen. Webers Idealtypen aber entsprechen einer Gesamtkarikatur, während sie bei Eucken die einzelnen Züge sind, deren Kombination am Ende die Karikatur, d.h. das Abbild der Realität, ergibt. Somit wird ein Idealtyp von Eucken deutlich enger gezeichnet als von Weber. Beispielsweise skizziert Eucken den Kapitalismus nicht als Idealtyp; es existieren viel zu viele Varianten davon. Kapitalismus stellt für ihn ein leeres Konzept dar. 821 Vollständige Konkurrenz, Eigenwirtschaft, Monopol und Oligopol dagegen sind Idealtypen.

[2] Ein Idealtyp gemäß Eucken beinhaltet theoretische Elemente. Dies beweisen die Marktformen, wohingegen Weber den Idealtypus als eine Konstellation von faktischen, aber charakteristischen Zügen sieht. Der theoretische Gehalt ist Eucken womöglich nicht bewusst, da er seine Idealtypen stets als a priori Urteile aus der Alltagserfahrung gewinnen möchte. 822 Doch sind Monopol oder Oligopol tatsächlich Begriffe der Alltagserfahrung? Allein angesichts dessen, dass Eucken sich der theoretischen Debatte mit Joan Robinson stellt, ob Konkurrenz ein Grenzfall des Monopols sei oder nicht, ist jene Frage zu verneinen. 823 Auf der Basis von Idealtypen beabsichtigt Eucken auch, Theorie zu gewinnen: „[...] sie enthalten in ihrer Gesamtheit nicht nur alle Formelemente, aus denen alle konkreten Wirtschaftsordnungen zu allen Zeiten und überall aufgebaut sind, sondern sie stellen auch so einfache, exakt bestimmbare Bedingungskonstellationen dar, dass in ihnen die Bedingungszusammenhänge, die innerhalb jeder einzelnen Konstellation bestehen, vom Denken erfasst werden können. Diese Idealtypen sind also haltbare Verbindungsglieder zwischen der Anschauung der geschichtlich-individuellen Wirklichkeit, aus der sie gewonnen sind, und der allgemein-theoretischen Analyse, die zur Erkenntnis der Zusammenhänge notwendig ist.“ 824 Im Rahmen eines Idealtyps hat letztendlich nur die Wirtschaftstheorie, nicht die Geschichte Platz. Euckens Idealtyp gleicht einem Modell.

[3] Ein Idealtyp enthält bei Eucken normativen Wert, obwohl er dies verneint: 825 Die verschiedenen Systeme der Zentralverwaltungswirtschaft sind nach zunehmendem Freiheitsgrad einer steigenden Zahl von Wirtschaftsakteuren geordnet, so dass Euckens Präferenz klar zum Vorschein kommt. Die Verkehrswirtschaft wird durch den Preismechanismus als der zentralgeleiteten Wirtschaft überlegener Koordinierungsmodus präsentiert. Innerhalb der Verkehrswirtschaft selbst erscheint die offene Konkurrenz als bestes System. Von den unterschiedlichen Geldsystemen entspricht die Kreditwirtschaft der fortgeschrittenen Variante. Euckens Typisierung wirtschaftlicher Koordinierungsmodi bildet im Prinzip eine Überleitung zu seiner wirtschaftspolitischen Arbeit. Deutlicher noch schreibt er: „In solchen Wirtschaftsordnungen [wo offene Konkurrenz als Marktform und ein Geldsystem der dritten Form dominieren] ist eine Tendenz wirksam, den Wirtschaftsprozess einem Zustand allgemeinen vollkommenen Gleichgewichts nahezubringen.“ In Ordnungen, wo die zentralgeleitete Wirtschaft dagegen dominiert, können Investitionen zu Fehlallokationen von Arbeitskräften und Sachkapital „im großen Stil“ führen. 826

Auf der Grundlage dieser Definition des Idealtyps führt Eucken mit dem Realtyp ein zweites Konzept ein. Da der Idealtyp einem gedanklichen Modell gleicht, findet er sich in der Wirklichkeit nicht wieder. Vielmehr sind die reinen, idealen Formen in der Realität verschmolzen. Die Wirklichkeit bildet den Realtyp, der sich aus den reinen Formen eines oder mehrerer Idealtypen ergibt. D.h. wo Weber einen Idealtyp sah, handelt es sich für Eucken um einen Realtyp.

Mit der Gegenüberstellung von Ideal- und Realtyp gelangt man zur zweiten Etappe von Euckens Arbeit zur Überwindung des Historismus: die Darstellung der geschichtlichen Wirtschaftswirklichkeit – nicht in Stufen oder Stilen wie bei anderen Vertretern der historischen Schule sondern in „Wirtschaftsordnungen“. Wirtschaftssysteme sind Idealtypen verstanden als gedankliche Modelle, wobei Phänomene und Kausalbeziehungen allein durch die reine Theorie erklärt werden. Wirtschaftsordnungen sind Realtypen, ein die Wirklichkeit wiedergebendes Bild verstanden als eine Mischform von Idealtypen.

Notes
817.

Eucken [1940: 268-269].

818.

Weber [1923: Kap. 4].

819.

Eucken [1940: 268].

820.

Klump [2003: 155].

821.

Eucken [1940: 41; 60-64].

822.

Siehe Punkt 1.1.1. in diesem Teil der Arbeit.

823.

Eucken [1940: 97-98].

824.

Ebd. 124.

825.

Ebd. 269.

826.

Ebd. 195-196.