5.2.3. Weniger utopische Staatskonzeption

Der Prozess des Wissenserwerbs setzt voraus, dass die Individuen zu jedem Zeitpunkt nur über einen begrenzten Vorrat an Informationen verfügen, was wiederum die These der begrenzten individuellen Rationalität begründet. Die Fähigkeit des Menschen, eine normative Wirtschaftsordnung auszugestalten, wird von der Ordnungsökonomik daher mit Skepsis betrachtet. Somit entfernt sie sich auch vom Ordoliberalismus, welcher sich in Bezug auf die Rationalität sehr optimistisch zeigt. Er geht davon aus, dass es möglich ist, die pragmatischen Institutionen so zu gestalten sowie die organischen Institutionen so zu korrigieren, dass ein wissenschaftlich ersonnenes Wirtschaftssystem realisiert werden kann.

Dem neuen Ansatz zufolge besteht der institutionelle Rahmen aus einer Reihe formeller Regeln, die das Verhalten der Akteure in ihren wirtschaftlichen Beziehungen zueinander beschränken. Dieses Regelwerk bildet die Wirtschaftsverfassung. 929 Sie umfasst ausschließlich pragmatische Institutionen in Form von allgemeingültigen Regeln. Allgemeingültig heißt aus rechtlicher Sicht: Die Regeln sind allen bekannt, sie gelten für alle und müssen in allen Fällen angewandt werden – so wie die Prinzipien einer Verfassung. Jene drei Regeleigenschaften verleihen wirtschaftlich gesehen den Erwartungen der Akteure eine gewisse Stabilität und verringern damit deren Transaktionskosten. Die Wirtschaftsverfassung stellt sicher, dass Wettbewerb ein offener Prozess der Informationsgewinnung bleibt, denn sie ermöglicht Entscheidungen für neu entdeckte Alternativen, solange diese nicht durch neue Regeln sanktioniert werden. Deshalb muss sich die Wirtschaftsverfassung darauf beschränken, Eigentumsrechte zu definieren und zu gewährleisten. Gemeint sind die Rechte und Verantwortung des Eigentümers bezüglich der Nutzung seines Eigentums sowie die Rechte und Verantwortung des Nutzers von fremdem Eigentum. Darüber hinaus definiert und garantiert die Verfassung sowohl die Unabhängigkeit als auch rechtliche Gleichheit der Akteure, zugleich schützt sie individuelle wirtschaftliche Freiheit vor öffentlicher Macht.

Die Rolle des Staates in der Wirtschaftspolitik wird nicht nur aufgrund der veränderten Rationalitätshypothese neu formuliert, sondern auch auf der Grundlage einer Analyse politischer Entscheidungsprozesse in parlamentarischen Demokratien. Im Ordoliberalismus ist der politische Bereich kein Gegenstand einer solchen Untersuchung. Politiker werden nie als „Unternehmer“, sondern immer als Exekutive der Wirtschaftsverfassung betrachtet, welcher sie ihr Handeln unterordnen müssen. Die Ordnungsökonomik dagegen kann sich auf über fünfzig Jahre Erfahrung parlamentarischer Demokratie stützen. Ihre Analyse basiert auf der Interaktion zwischen Politikern, Wählern und Lobbygruppen, wie sie das Buch „Rent-Seeking Society“ beschreibt. 930

Notes
929.

Streit [1995: 24].

930.

Siehe hierzu als weiterführende Literatur auch Buchanan, Tollison & Tullock [1980: Kap. 4].