5. Die historische Schule ist kein geschlossenes Kapitel der Nationalökonomie

Für eine Weiterentwicklung von Euckens Werk auf empirischem Gebiet spricht letztendlich auch die Aktualität der historischen Schule. Drei Argumente sollen diese These untermauern:

[1] Mit etwas geschichtlicher Distanz hat sich erwiesen, dass Spiethoffs Diagnose der Weltwirtschaftskrise 1932 korrekt war. Lediglich wegen seines Relativismus scheiterte er daran, eine Medikation zu empfehlen. Wichtiger noch: Spiethoffs Theorie der wirtschaftlichen Wechsellagen ist auf keinen Fall überholt. Wie im zweiten Teil dieser Arbeit deutlich wurde, erklärt sein Musterkreislauf den Börsencrash des Jahres 2001 als „Spekulationskrise“ einwandfrei. Man könnte hinzufügen, dass sie in Kombination mit den Ereignissen des 11. September 2001 zur anschließenden Kreditklemme führte und zugleich die schwache Konjunktur sowie labile Lage deutscher Banken gut verständlich macht. Auch die folgende Bilanzsanierungsphase deutscher Unternehmen vor dem „Umschwung“ wird mittels Spiethoffs Theorie einsichtig. Insgesamt beweisen etliche Parallelen in Deutschlands Wirtschaftsablauf während der „New Economy“-Periode und der Weltwirtschaftskrise, 984 dass die Lehre von Spiethoff weiterhin zeitgemäß ist. Allerdings sollte sie dem Stand aktueller Theorie angepasst (z.B. Endogenisierung der Inflation) sowie ihr äußeres Gewand modernisiert werden (beispielsweise Ersatz der Produktion von Eisen durch heutzutage verbreitete Sentiment-Indizes als Frühindikatoren für Konjunkturschwankungen). Dementsprechend wäre an eine empirische Studie zu denken, um die Merkmale der Kreislaufphasen neu zu definieren und dem heutigen Wirtschaftssystem anzupassen (etwa an die Globalisierung oder die Internationalisierung von Kapitalmärkten). Euckens Ordnungstheorie könnte sich dabei als sehr nützlich erweisen, da die Wechsellagen anhand unterschiedlicher Wirtschaftsordnungen untersucht werden könnten. Hier sei nicht nur an Ordnungen gedacht, die Euckens Systemen der Verkehrs- oder Planwirtschaft nahe kommen (Deutschland bzw. China), sondern auch an sich rasch entwickelnde Wirtschaftsordnungen (osteuropäische Länder). Außerdem weisen auch die etablierten Verkehrswirtschaften der G7-Staaten verschiedene Charakteristika auf und erbringen unterschiedliche Leistungen. 985 Der zweite Schritt einer Modernisierung von Spiethoffs Theorie müsste darin bestehen, sich vom historischen Relativismus zu befreien. Diesbezüglich hat Walter Euckens Beitrag eindeutig weitergeholfen und ist vielleicht am wertvollsten.

[2] Theoretische Lehrsätze werden heute mit Hilfe ökonometrischer Verfahren stets getestet, so dass dem gegenseitigen Austauschprozess zwischen Theorie und Empirie auf dem Weg zum Erkenntnisgewinn mehr Bedeutung zukommt. Während Menger ein solches Verfahren ablehnte, hat der wissenschaftliche Fortschritt der historischen Schule Recht gegeben. Das Problem statistischer Datenknappheit der alten historischen Schule ist weitgehend gelöst. Zum einen verfügen wir mittlerweile über eine Vielzahl von Zeitreihen, die auch weit in die Vergangenheit reichen, um theoretische Lehrsätze zu testen. Im Grunde geht nun ein breites Spektrum an Statistiken bis 1870 zurück. Zum anderen hat sich das ökonometrische Verfahren durch leistungsfähige computergestützte Anwendungen schnell entwickelt. Mehr denn je ist die Statistik eine „Hilfswissenschaft“ der Nationalökonomie, so die Anforderungen der alten historischen Schule. 986 In diesem Zusammenhang wäre beispielsweise die „Theory of permanent revenue“ zu nennen. 987 Sie erklärt das Konsumniveau als Funktion des gegenwärtigen Einkommens privater Haushalte aus Beschäftigung und Vermögen. Mittels Fehlerkorrektur-Modellen lässt sich für Deutschland nachweisen, dass die Elastizität des Konsums zur Kaufkraft von Privathaushalten eins beträgt, dass steigende Aktienkurse via Vermögenseffekten das Konsumniveau stützen, dass aber der langfristige risikolose Zinssatz als erklärender Diskontierungsfaktor scheitert. 988 Dank Euckens Theorie stellt sich dann die Frage nach der Aktualität der permanenten Einkommenshypothese für die deutsche Wirtschaftsordnung. So kommt man auf die Idee, Letztere zu untersuchen, um das abweichende Ergebnis zwischen Theorie und Empirie zu begründen (z.B. Finanzierung des Privatkonsums, Sparanreize, etc.).

[3] Schließlich ist die deutsche Tradition der Nationalökonomie mit ihrer ursprünglichen Kritik an Smith den Reichtum der Nationen betreffend nicht nur wissenschaftlich sondern auch wirtschaftspolitisch hoch aktuell. Für List ergab sich Wirtschaftswachstum nicht allein aus dem Einsatz von Arbeit und Kapital. Vielmehr resultierte es seines Erachtens ebenfalls aus den „produktiven Kräften“ einer Gesellschaft, die sämtliche Institutionen verkörperten. 989 Doch diese produktiven Kräfte sind nichts anderes als das Solow-Residuum, d.h. der nicht erklärte Teil des Wirtschaftswachstums, das sich aus einer Produktionsfunktion ergibt. Die Wirtschaftswissenschaft ist im Begriff, dem Solow-Residuum etwas näher auf die Spur zu kommen, indem Komponenten der Gesamtfaktorproduktivität sukzessive isoliert werden (durchschnittliches Bildungsniveau, F&E-Ausgaben, Humankapital, etc.). Jedoch fehlen Statistiken, um alle Hypothesen zu testen und jenes Untersuchungsfeld ist noch lange nicht erschöpft. 990 Eine Tendenz aber zeigt sich bei der Zergliederung des Solow-Residuums: Wie List mit seiner Theorie der produktiven Kräfte richtig ahnte, gibt es offenbar keine Grenzen, was die Natur der Gesamtfaktorproduktivität anbelangt. Unproduktive Tätigkeiten, wie sie einst Smith zu erkennen glaubte, scheint es nicht zu geben. Der Anteil der Gesamtfaktorproduktivität am gesamten Wirtschaftswachstum ist außerdem erheblich. Für Deutschland kann man schätzen, dass innerhalb der letzten zehn Jahre das Solow-Residuum im Durchschnitt 0,9, Kapital 0,5 und Arbeit 0,0 Prozentpunkte Wachstum pro Jahr brachten. 991 Der Wachstumsbeitrag des Solow-Residuums erscheint so bedeutend, dass die Europäische Union im Jahr 2000 auf dem Lissabon-Gipfel entschieden hat, diesen Teil des Wirtschaftswachstums besonders zu fördern (F&E-Ausgaben, Internet-Zugänge für Schulen, Bildungsabschlussraten, etc.), damit die EU bis 2010 zur dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsregion der Welt wird. 992

Ist man von der Aktualität der historischen Schule überzeugt, dann hat Walter Eucken dieses Kapitel der deutschen Nationalökonomie nicht zu Ende geschrieben, sondern ihm neue Impulse verliehen.

Notes
984.

Artus & Broyer [2003].

985.

Albert [1991].

986.

Roscher [1886: 34-41].

987.

Attanasio [1998: 13-17].

988.

Broyer [2005].

989.

List [1842: 262].

990.

Stiroh [2001].

991.

Broyer & Lefeuvre [2005].

992.

European Commission [2005]; Broyer & Maillard [2005].